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       # taz.de -- „Tatort“ während Corona: „Gucken doch eh zehn Millionen“
       
       > Es tatortet wieder. Zwei Regisseur*innen und zwei Drehbuchautoren
       > erzählen von der Relevanz der ARD-Reihe im 50. Jubiläumsjahr.
       
   IMG Bild: Tatort „Schwanensee“: Frank Thiel (Axel Prahl) und Professoer Boerne (Jan Josef Liefers)
       
       Lange war unklar, ob es nach der Sommerpause in der gewohnten
       Regelmäßigkeit neue „Tatort“-Folgen geben würde. Wegen der Pandemie waren
       Dreharbeiten teils verschoben worden. Die, die stattfanden, mussten an
       Coronabedingungen angepasst werden. Zwischenzeitlich war der [1][Nachschub
       an Krimistoffen] in Gefahr. Mit dem sonntagabendlichen Fernsehritual stand
       zwar keine „systemrelevante“ Versorgung auf dem Spiel, aber doch eine
       letzte Bastion der Regelmäßigkeit. Die ARD-Krimireihe ist das beliebteste
       fiktionale Fernsehformat in Deutschland, selbst die Wiederholungen im
       Sommer schalteten zwischen vier und acht Millionen ein. Die
       Erstausstrahlungen 2019 sahen im Schnitt neun Millionen – 300.000 mehr als
       im Jahr zuvor.
       
       Mittlerweile gibt die ARD-Programmdirektion Entwarnung: Man gehe davon aus,
       dass bis zur Sommerpause 2021 planmäßig Erstausstrahlungen gezeigt werden
       können. Die Folgen entstünden allerdings unter eingeschränkten Bedingungen.
       Die Dreharbeiten zur zweiten Folge des Jubiläums-„Tatorts“ etwa – ein
       gemeinsamer Fall der Dortmunder und Münchner Teams, mit dem die Reihe ihr
       50-jähriges Bestehen feiert – mussten zwischenzeitlich abgebrochen werden.
       
       Bevor es Mitte Juni weitergehen konnte, wurden unter Coronabedingungen
       schwer umzusetzende Szenen, etwa mit vielen Kompars*innen oder solche,
       die Autofahrten mit Dialogen vorsahen, geändert. Am Set dann
       Mindestabstand, Händewaschen, Maskenpflicht, regelmäßige Tests. Inzwischen
       befindet sich „In der Familie, Teil 2“ in der Postproduktion – die
       verkürzte Fertigstellungszeit sei „ziemlich krass“, sagt Regisseurin Pia
       Strietmann, ein Verschieben aber aufgrund des Jubiläums im November nicht
       möglich.
       
       Strietmann ist eine recht neue „Tatort“-Regisseurin und hatte erst dieses
       Jahr mit [2][„Unklare Lage“ – an das Attentat auf das
       Olympia-Einkaufszentrum angelehnt] – ihr Debüt. Sie steht der Reihe
       recht kritisch gegenüber. Vorherige Drehbücher habe sie abgelehnt: zu
       belanglos. Dass sie zustimmte, habe daran gelegen, dass „Unklare Lage“ „im
       besten Sinne kein richtiger ‚Tatort‘ “, sondern ein „erdiges Polizeistück“
       sei. Absolute Realitätsnähe sei ihr wichtig – auch beim zweiten Teils der
       Jubiläumsdoppelfolge, in der es um die Verstrickung einer Familie in die
       Strukturen der [3][’Ndrangheta] geht. Es seien die „reinen
       Ulknudelsachen“, mit denen sie wenig anfangen könne, sagt sie. „Ich finde
       die weder besonders lustig noch besonders spannend, noch irgendwie
       relevant.“
       
       ## Weniger Experimente
       
       Das quotenmäßig mit Abstand erfolgreichste Ermittlerteam sind „Thiel und
       Boerne“ aus Münster (zuletzt durchschnittlich knapp unter 13 Millionen
       Zuschauer*innen) – ein Slapstick-„Tatort“, der die traumhaftesten aller
       Traumquoten einfährt. Die als besonders „experimentell“ geltenden Folgen
       der [4][Wiesbaden-Reihe mit Ulrich Tukur] hingegen rangieren trotz aller
       positiven Kritiken und zahlreicher Auszeichnungen auf den letzten Plätzen –
       mit etwa 7,5 Millionen Zuschauer*innen. Das Zuverlässige, vielleicht
       Erwartbare funktioniert grundsätzlich besser als das innovative Fernsehen,
       für das sich ambitionierte Filmemacher*innen interessieren.
       
       So ist der Grund für die steigenden Einschaltquoten im Jahr 2019 wohl auch,
       dass die Zahl sogenannter experimenteller Folgen reduziert worden war.
       Drehbuchautor [5][Erol Yesilkaya] wehrt sich aber gegen die gängige
       Behauptung, dass das Publikum experimentelle „Tatorte“ generell ablehne.
       „Die oberste Regel ist und bleibt: Wenn es ein spannender Film ist, geht
       auch das Publikum mit – egal wie experimentell.“ Yesilkaya ist dafür
       bekannt, gemeinsam mit Regisseur Sebastian Marka ausgetretene
       „Tatort“-Pfade zu verlassen. Ihr Berlinale-„Tatort“ „Meta“ wurde letztes
       Jahr mit dem Grimme-Spezialpreis ausgezeichnet. Inzwischen hat Yesilkaya
       zwölf von diesen ungewöhnlichen „Tatorten“ geschrieben – und findet, dass
       es gerade der Abwechslungsreichtum, sei, der die Zuschauer*innen an das
       Format binde.
       
       Für Drehbuchautor Murmel Clausen, der für den [6][Comedy-„Tatort“ aus
       Weimar mit Nora Tschirner und Christian Ulmen in den Hauptrollen] schreibt,
       schließen sich Humor und Realitätsnähe nicht zwangsweise aus: „Weimar ist
       kein sozialer Brennpunkt. Ich glaube nicht, dass unser ‚Tatort‘ in München,
       Berlin oder Hamburg funktionieren würde. Münster hingegen ist auch ein
       bisschen Kaff, da ist die Welt relativ in Ordnung, da kann man auch so was
       Schräges abfeiern.“ Der „Tatort“ sei einfach ein Stück Kulturgut, das am
       Montag für Gesprächsstoff am Arbeitsplatz sorge: „Man kann sich gemeinsam
       darüber aufregen oder ihn – in Ausnahmefällen – sogar gemeinsam toll
       finden.“
       
       ## Debatten, die bewegen
       
       Dass der „Tatort“ zu einem Sonntagabendritual werden konnte, das so sehr
       bewegt, dass am nächsten Tag am Arbeitsplatz darüber diskutiert wird, das
       via Social Media live kommentiert (oder zerrissen) und von den Feuilletons
       mit wöchentlichen Kritiken bedacht wird, hat wohl auch mit der
       gesellschaftlichen Relevanz zu tun, die dem Format nachgesagt wird. Mit
       zuverlässiger Regelmäßigkeit werden – mal mehr, mal weniger gelungen –
       Debatten abgebildet, die gerade bewegen. „Der ‚Tatort‘ liefert, wenn es
       nicht gerade ein spezieller ist wie der Weimarer, auch einen aktuellen
       Einblick in die deutsche Seele“, sagt Clausen.
       
       Regisseurin Pia Strietmann erzählt von einer prägenden Erfahrung aus einem
       Redaktionsgespräch, als über ein formales Detail diskutiert wurde: „Damals
       sagte ich flapsig: ‚Ist doch egal, wie wir das machen – das gucken doch eh
       zehn Millionen.‘ Ich bekam als Antwort, dass es nicht nur ein Geschenk sei,
       das man da als Filmemacher bekommt. Sondern auch eine Verpflichtung – wenn
       schon so viele Leute einschalten –, dass man auch etwas Relevantes
       anbietet. Ich glaube, das ist auch der Grund, weswegen es mich aufregt –
       fast traurig macht –, wenn ‚Tatorte‘ dieser Verpflichtung nicht
       nachkommen.“
       
       Eine Verpflichtung, die Schauspieler-Urgestein Udo Wachtveitl vom Münchner
       „Tatort“ zu weit zu gehen scheint. Vor Kurzem äußerte er gegenüber der Zeit
       Kritik daran, dass die Krimireihe mittlerweile moralisch viel zu erwartbar
       geworden sei. [7][Ursache sei „1968er-Kitsch“; von Redakteuren, die keine
       „Ausländer“ als mögliche Täter zuließen, war die Rede].
       
       ## Mut zu Neuem
       
       Regisseur Sebastian Marka findet hingegen, dass die Reihe immer schon
       versucht habe, die Moral hervorzuheben. „Der Kommissar ist schließlich wie
       der Pfarrer in der Sonntagspredigt: einer, der stellvertretend für uns am
       Ende der Woche die Welt wieder geraderückt. Da kommt man um die Frage nach
       Moral nicht herum.“ Drehbuchautor Erol Yesilkaya ergänzt, dass gut und
       böse in seinen Filmen nie allein von der Gesellschaftsschicht oder gar der
       Ethnie abhingen. „Und mir wurde diesbezüglich von den Redaktionen stets
       freie Hand gelassen. Das gilt übrigens auch für die ‚Tatorte‘, die ich mit
       Udo als Kommissar geschrieben habe.“
       
       Wie geht es weiter? Wenn der „Tatort“ sich auch dadurch auszeichnet, die
       jeweilige Alltagswelt seiner Zuschauer*innen abzubilden, müssten dann jetzt
       auch Stoffe inszeniert werden, die die Pandemie in den Blick nehmen?
       
       Regisseurin Pia Strietmann ist sich unsicher, ob sie selbst einen
       Corona-„Tatort“ inszenieren würde – sie möchte erst mal eine
       „Tatort“-Pause. Murmel Clausen ist überzeugt, dass die neue Erfahrungswelt
       unbedingt erzählt werden muss – findet aber, dass das nicht in die
       lustig-heile Weimar-Welt passe. Erol Yesilkaya wiederum hat zwar gerade
       erst mit [8][der ZDFneo-Serie „Sløborn“] über eine plötzlich auftretende
       Krankheit geschrieben. Durch den tatsächlichen Virusausbruch habe er aber
       schlagartig das Interesse an einem derartigen Stoff verloren. Sebastian
       Marka macht es von der Möglichkeit abhängig, „der Geschichte und den
       Figuren etwas hinzufügen zu können“.
       
       Dass es jedenfalls den Macher*innen an Mut zu Neuem nicht mangelt, zeigt
       sich, wenn man sie nach ihren Wunschthemen fragt: Die Ideen reichen von
       „Stalking“ (Marka) über ein „liebevolles Zitat an ‚Nackte Kanone‘,
       umgesetzt mit einem seriösen Ermittlerteam“ (Strietmann), und „etwas in
       Richtung Sherlock Holmes“ (Clausen) bis zu „Zeitreisen“ (Yesilkaya). Ob das
       im Sinne des gewohnheitsverliebten Publikums wäre, ist eine andere Frage.
       Am Ende wird die Bedeutung des „Tatorts“ als beruhigende Konstante durch
       die Pandemie noch unterstrichen. Im Gegensatz zu vielen anderen TV-Formaten
       muss sich die Reihe nicht einmal vom Budget und der Risikobereitschaft der
       Streaminganbieter unter Druck gesetzt fühlen, da ihr Erfolg auf ganz
       anderen Sehnsüchten beruht. Idyllische Routine statt anspruchsvoller
       Experimente.
       
       6 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR [6] /Tatort-aus-Weimar/!5294794
   DIR [7] https://www.zeit.de/2020/34/krimiserie-tatort-redaktion-schauspieler-regisseure-zuschauer/seite-4
   DIR [8] /Serie-Slborn-in-ZDF-Mediathek/!5695552
       
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