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       # taz.de -- Retrospektive von Harald Hauswald: Schnell, unerschrocken, frech
       
       > „Voll das Leben!“ Eine Retrospektive bei c/o Berlin würdigt Harald
       > Hauswald als Chronist der späten DDR und Meister der Straßenfotografie.
       
   IMG Bild: Harald Hauswald, Konzert von Big Country, Radrennbahn, Weißensee, Berlin, 1988
       
       Am 17. Januar 1984 notiert die Stasi um 14.50 Uhr, dass „Radfahrer“ aus
       „dem Torweg zum Wohnhaus Kastanienallee 11“ getreten ist und „Umhängetasche
       und Stativ mit sich“ führt. Um 16.25 Uhr kommt „Radfahrer“ aus einem
       anderen Haus in derselben Straße: „Umhängetasche und Stativ hatte er wieder
       bei sich.“ Später wird „Radfahrer“ noch Spielwarengeschäft, Bäckerei und
       Fischhandlung aufsuchen.
       
       Die Stasi überwachte das Leben von „Radfahrer“, Klarname: Harald Hauswald,
       dermaßen intensiv, dass auch belanglose Details festgehalten wurden. Sie
       illustrieren, wie Hauswald den Alltag in den letzten Jahren der DDR so
       unverstellt hatte festhalten können: Die Kamera war immer dabei. Die
       Stasi-Akte eröffnet „Voll das Leben!“, die große
       Harald-Hauswald-Retrospektive bei c/o Berlin. Man wird empfangen vom riesig
       vergrößerten Deckblatt mit unverzichtbaren Informationen zu Größe („183
       cm“), Haarstruktur („glatt“) und Besonderheiten („starker Raucher“).
       
       Das Observationsobjekt war aus Sicht der Stasi der gefürchtetste
       Underground-Fotograf der DDR. Hauswald war, so charakterisiert ihn Felix
       Hoffmann, Kurator der Ausstellung, ein „beobachteter Beobachter“, dessen
       Bilder „ein Stachel im Fleisch“ der DDR waren. So bedroht fühlte sich das
       Land von dem Mann mit der Canon A1, dass sie ihn nicht nur von bis zu 40
       Informellen Mitarbeitern überwachen ließ, sondern auch vorübergehend das
       Erziehungsrecht für seine Tochter entzog. Die Werkschau konzentriert sich
       auf Hauswalds Schaffen in den 1980ern – in jener Zeit sind seine
       wichtigsten Fotos entstanden.
       
       ## Stasi-Akte und Überwachungsfotos
       
       Wer den ersten Raum verlässt, in dem Auszüge der Stasi-Akte und
       Überwachungsfotos an die Wand gepinnt sind, dessen Blick fällt sofort auf
       eines der berühmtesten Hauswald-Porträts: Drei Werktätige sitzen
       nebeneinander in der U-Bahn, zwei halten sich fest an ihren Aktentaschen,
       alle drei blicken müde, frustriert, desillusioniert an der Kamera vorbei
       ins Nichts. Zuhauf finden sich in der Ausstellung diese ikonografischen
       Aufnahmen aus dem spätsozialistischen Alltag.
       
       [1][Die DDR konnte damals kaum mehr verbergen,] dass sie dem Untergang
       geweiht war: Die verwischten Fahnen am Rande der 1. Mai-Demonstration 1987;
       der Berliner Dom, der sich in der Glasfassade des Palasts der Republik
       spiegelt; die Impressionen von den Straßen Ostberlins, die Hauswald einfing
       wie niemand sonst. „Es ist ganz subjektive Dokumentarfotografie, eine
       klassische Straßenfotografie“, sagt die Fotografin Ute Mahler über den
       Kollegen. „Dazu muss man gewisse Charaktereigenschaften haben, man muss
       schnell sein, unerschrocken und auch ein bisschen frech.“
       
       ## Wichtige Agentur
       
       Vor 30 Jahren, kurz nach dem Mauerfall, haben Hauswald, Mahler und fünf
       weitere ostdeutsche FotografInnen die Agentur Ostkreuz gegründet. Über den
       Zeitraum der vergangenen beiden Jahre hat sich Mahler durch das noch nicht
       katalogisierte Archiv des Kollegen gegraben. Sie hat circa 7.500
       Kleinbildfilme gesichtet, die der 1954 in Radebeul geborene Hauswald
       belichtet hat. Dann hat sie das Konvolut auf 5.000 Bilder reduziert, die
       anlässlich des 30. Jahrestags der Wiedervereinigung und auf Kosten der
       Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eingescannt wurden. Diese
       Auswahl wiederum wurde von Felix Hoffmann, Mahler und Co-Kuratorin Laura
       Benz für Ausstellung und Buch auf 400 reduziert.
       
       Es sind [2][Straßenszenen und Bilder aus Ostberliner Kneipen], Aufnahmen
       von Tanzenden und Trinkenden, von Demonstrierenden und Jubelnden, von
       Losungen an Häuserwänden, mit denen sich der Sozialismus seiner selbst
       versicherte, und Soldaten, die diesen Sozialismus bewachen. Wer sie nun
       sieht, diese Bilder, die in ihrer Gänze ein untergegangenes Land wieder
       lebendig werden lassen, dem muss aber auch klar sein, dass diese
       Ausstellung einen der letzten großen Vertreter einer wohl aussterbenden
       Kunstform feiert. „Kaum eines dieser Fotos wäre heute durch die neuen
       Bestimmungen und das Recht am eigenen Bild noch möglich“, sagt Ute Mahler.
       „Diese spontane Fotografie sagt unendlich viel aus über den Ort und die
       Zeit, aber das wird künftig wegfallen. Das Genre Straßenfotografie geht
       seinem Ende entgegen.“
       
       Das war für Hauswald in den achtziger- oder auch frühen neunziger Jahren,
       als er die Räumung der besetzten Häuser in Berlin-Friedrichshain und die
       Streikenden in von der Abwicklung bedrohten Betrieben fotografierte, noch
       kein Thema. Die Kamera war ihm, so hat er es selbst mehrfach formuliert,
       nie nur Arbeitsmittel, sondern Schlüssel zur Welt. Sie war immer dabei, ob
       am See mit der Familie oder bei seiner Arbeit als Telegrammbote, bei den
       Hinterhofpartys der Ostberliner Bohème, auf den Rängen eines
       Fußballstadions oder bei den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in
       Rostock-Lichtenhagen.
       
       Dort gelang ihm eines der beeindruckendsten Bilder in der Ausstellung: Die
       graue Häuserwand eines Plattenbaus aus der Ferne, in einem der wenigen
       Fenster steht klein, kaum zu erkennen, ein Mann und reckt den Arm zum
       Hitlergruß. Viel mehr noch als das ungleich berühmtere Spiegel-Foto von dem
       hitlergrüßenden Rostocker mit eingepullerter Jogginghose, fängt Hauswalds
       Aufnahme unaufdringlicher, ja feiner die ganze Trostlosigkeit einer solchen
       rechtsradikalen Existenz ein.
       
       ## Große Zärtlichkeit
       
       Es ist eins der Fotos, auf die Mahler gestoßen ist, während sie sich durch
       Hauswalds Schaffen arbeitete, und bei dem sie einen weiteren, noch wenig
       bekannten Hauswald entdeckt hat. „Haralds Bilder sind auf den Punkt, aber
       gerade die bekanntesten haben oft keine zweite Ebene. Es ist eine laute
       Fotografie, manchen auch zu vordergründig“, sagt sie. „Doch während der
       Recherche hat mich überrascht, dass ich auch viele leise Bilder gefunden
       habe, die eine große Zärtlichkeit haben.“
       
       Diese zum Teil noch nie veröffentlichten Aufnahmen sind es, die die
       Retrospektive zu mehr als der Greatest-Hits-Compilation eines verdienten
       Künstlers machen. Bilder von seiner Familie oder jene, die Hauswald während
       seiner Anstellung in der Stephanus-Stiftung zu Beginn der achtziger Jahre
       fotografiert hat. Die Bilder von den behindertem Bewohnern der kirchlichen
       Einrichtung in Berlin-Weißensee sind nie voyeuristisch, immer liebevoll,
       stets empathisch.
       
       Sie zeigen exemplarisch, dass Hauswald – wie es c/o-Geschäftsführer Stephan
       Erfurt in der Pressekonferenz formulierte – nicht nur „der große Chronist
       Ostberlins“ ist, sondern „auch ein Poet, der Bilder nicht nur findet,
       sondern sucht“.
       
       Hauswald selbst erzählt, dass er, als er die behinderten Menschen
       fotografierte, erst lernen musste, lernen durfte, wie man Nähe zu seinem
       fotografischen Objekt herstellt. Die Bilder aus der Stephanus-Stiftung sind
       der Schlüssel dazu, dass aus ihm der Meister der Straßenfotografie werden
       konnte, der in dieser Ausstellung zu bewundern ist.
       
       15 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Winkler
       
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