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       # taz.de -- „Wir müssen wachsam bleiben“
       
       > Griechenland lehnt türkische Forderungen ab und will aufrüsten
       
       Aus Athen Rodothea Seralidou 
       
       Die Insel Kastelorizo hatte am vergangenen Sonntag ihren Ehrentag. Gefeiert
       wurde ihre Befreiung von der Besatzung im Zweiten Weltkrieg, so wie jedes
       Jahr mit griechischen Fahnen an den Balkons und in den Straßen und einem
       feierlichen Gottesdienst in der orthodoxen Kirche der Heiligen Konstantin
       und Helena. Griechenland bekommt davon normalerweise nur wenig mit, begeht
       doch jeder Ort ähnliche historische Ereignisse. Aber in diesem Jahr liegt
       das Gedenken auf der fernen Insel im Fokus des Interesses, ist doch
       Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou höchstpersönlich nach
       Kastelorizo gereist – nicht zuletzt, um mit ihrer Präsenz ein Zeichen an
       die Türkei zu senden, dass Kastelorizo unumstritten ein Teil Griechenlands
       ist und die Türkei weder die Souveränität Griechenlands noch die
       Meereszonen, die von der Insel ausgehen, infrage stellen darf.
       
       Kastelorizo habe sehr wohl diese Aufmerksamkeit verdient, sagt Nikos
       Papagiannis. Der 66-Jährige steht etwa 560 Kilometer von Kastelorizo
       entfernt vor einem Zeitungskiosk in der Athener Innenstadt und schaut sich
       die Titelblätter der Zeitungen an. Nach dem verheerenden Brand in Moria und
       der dramatischen Situation der Flüchtlinge auf Lesbos ist der Streit mit
       der Türkei um Bodenschätze und Hoheitsrechte wieder zum Thema Nummer eins
       geworden. Dass die griechische Regierung nicht im Alleingang gegen die
       Türkei vorgehen will und Verbündete sucht, dabei innerhalb der Europäischen
       Union und insbesondere in der Person des französischen Staatspräsidenten
       Emanuel Macron Unterstützung gefunden hat, findet Papagiannis gut. „Wir
       haben es bei Erdoğan ja mit einem Größenwahnsinnigen zu tun, mit einem
       unberechenbaren Diktator, der sich das Osmanische Reich zurückwünscht“,
       sagt er. Die EU müsse Erdoğan endlich in die Schranken weisen. Gegen das
       türkische Volk habe er nichts, im Gegenteil: Er sei schon mehrmals in der
       Türkei gewesen und sei immer sehr herzlich empfangen worden, wenn er gesagt
       hat, woher er komme.
       
       Meinungsumfragen der letzten Tage zufolge stehen die meisten Griechinnen
       und Griechen hinter der Politik ihrer Regierung. Etwa 60 Prozent der
       Griechen wünschen sich eine diplomatische Lösung des Streits. Diejenigen,
       die eine härtere Haltung fordern, auch wenn dies zu einer militärischen
       Auseinandersetzung führen könnte, kommen aber auf immerhin 38 Prozent. Ein
       Dialog mit der Türkei? „Nein danke“, sagt der 75-jährige Charalambos
       Mouratidis. Der Athener Rentner sagt, er habe die Nase gestrichen voll. Die
       von der Türkei ausgestoßenen Drohungen gegen Griechenland müssten endlich
       aufhören, sagt er. „Wir haben keine Forderungen an die Türkei. Die Türkei
       ist diejenige, die ständig Forderungen stellt: Was sollen wir denn mit
       Erdoğan unter diesen Bedingungen am Verhandlungstisch diskutieren? Was er
       uns Griechen wegnehmen soll?“
       
       In der Tat hat Ankara eine ganze Reihe von Forderungen gestellt: Der Streit
       um die Ausbeutung von Meereszonen in der Ägäis und dem östlichen Mittelmeer
       ist nur einer von mehreren. Die Türkei stellt die Souveränität griechischer
       Inseln infrage, spricht von „grauen Zonen“ und fordert die
       Entmilitarisierung der Inseln, die gegenüber der türkischen Küste liegen.
       Griechenland hingegen erkennt nur einen Streitpunkt mit der Türkei an: den
       der Festlegung der Meereszonen.
       
       Um die Auseinandersetzung vor dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag
       zu lösen, müssten beide Staaten zunächst einmal die genaue Fragestellung
       erarbeiten. Denn die Türkei erkennt die Zuständigkeit des Gerichtshofs
       nicht per se an. „Das setzt voraus, dass es gute diplomatische Beziehungen
       zwischen den involvierten Parteien gibt, dass sich beide Seiten an den
       Verhandlungstisch setzen und die konkreten Fragen, die das Gericht
       beantworten soll, ausarbeiten“, sagt die Juristin und Leiterin des
       Instituts für Internationales Recht an der Universität Athen, Fotini
       Pazartzi. Gerade da liege das Problem: Wie solle das geschehen, wenn das
       Klima so schlecht ist wie im Moment und die Türkei Griechenland verbal und
       militärisch drohe, fragt sich Pazartzi.
       
       Einerseits schließt Premierminister Kiriakos Mitsotakis Verhandlungen mit
       der Türkei nicht aus. Andererseits hat er am vergangenen Samstag die
       Aufrüstung der Streitkräfte angekündigt: Achtzehn französische Kampfjets
       vom Typ Rafael und vier neue Fregatten sollen die Truppe verstärken. Zudem
       will Mitsotakis in den nächsten fünf Jahren Armee und Marine um 15.000
       Berufssoldatinnen und -soldaten verstärken.
       
       Der Athener Rentner Charalambos Mouratidis findet das richtig. „Wir haben
       leider nicht die Schweiz zum Nachbarn, sondern die Türkei unter Erdoğan. Da
       müssen wir wachsam bleiben.“
       
       15 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rodothea Seralidou
       
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