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       # taz.de -- Armenisches Model Armine Harutyunyan: Kleine Revolution auf dem Laufsteg
       
       > Harutyunyan bricht mit Schönheitsidealen und steht für ein modernes
       > Armenien. Doch seit ihrem Auftritt bei Gucci erfährt sie viel Hass im
       > Netz.
       
   IMG Bild: Das armenische Model Armine Harutyunyan während der Fashion Week in Mailand im Herbst 2019
       
       Mädchen mit Elefantenohren“ oder „krumme Schnauze“: Solche Beleidigungen
       musste sich Armine Harutyunyan während ihrer Schulzeit häufig anhören.
       Leicht war es für sie nicht, doch heute zeigt sie ihre große Nase und ihre
       buschigen Augenbrauen stolz in der Öffentlichkeit. Im September vergangenen
       Jahres präsentierte die Armenierin sogar die Frühling-Sommer-Kollektion
       2020 von Gucci auf der Mailänder Fashionweek. Ein Erfolg für Armenien,
       freuen sich viele. Doch seitdem wird das Model auch mit Hasskommentaren in
       sozialen Netzwerken bombardiert – vor allem in Italien. Wie auch schon zu
       Schulzeiten arbeiten sich Menschen an ihrem Körper ab, der [1][nicht den
       normierten Schönheitsidealen entspricht.]
       
       Die 24-Jährige wohnt in der armenischen Hauptstadt Jerewan, ist Künstlerin,
       Grafikdesignern – und Model. Früher hätte sie sich nie vorstellen können,
       dass sie mit ihrem Aussehen jemals über einen Laufsteg gehen würde. Doch
       geträumt hat sie schon immer davon. Genauso wie einmal auf einer Bühne zu
       stehen. So ging sie schon als Sechsjährige zum Ballett, spielte Klavier und
       sang in einem Chor. Später studierte sie Bühnenbild.
       
       Doch wie kam sie auf den Laufsteg von Gucci? „Ich habe nie aufgegeben, an
       meine Träume zu glauben“, sagt Armine Harutyunyan der taz. „Und daran war
       auch Berlin schuld.“ Im Frühling 2019 flog sie in die deutsche Hauptstadt,
       um ein Konzert ihrer Lieblingsband, der südkoreanischen Gruppe Hyukoh, zu
       besuchen. Auf der Straße wurde sie von einem Modelscout angesprochen und
       fotografiert. Kaum zurück in Jerewan, bekam sie einen Anruf und flog nach
       Mailand. Bei dem Casting wurde schnell klar: Harutyunyan wird für Gucci
       laufen. Sie konnte es nicht fassen. „Ich war so begeistert, so viele neue
       Erfahrungen, ich war immer kurz davor, in Tränen auszubrechen“, sagt sie.
       
       Harutyunyan hatte es als Mädchen nicht leicht. „Ich wurde in der Schule
       ständig gemobbt. Meine Schulkamerad*innen haben mein Handy und meine
       Schulsachen geklaut, um mich zu ärgern und sich über mich lustig zu
       machen“, erzählt sie. Als sie 18 Jahre alt war, wollte sie sich einer
       plastischen Operation unterziehen. „Ich dachte mir, dass nur ein solche
       Eingriff mein Leben retten könne“, sagt sie. Vor allem ihre große
       „Adlernase“ mochte sie nicht.
       
       ## 40.000 Nasen-OPs
       
       Als „Adlernase“ bezeichnen viele Armenier*innen humorvoll ihre Nase. Ein
       bekannter Witz geht folgendermaßen: Als Gott die Armenier*innen einst
       fragte, welche Nase er ihnen geben solle, und er ihre Gegenfrage, ob diese
       umsonst sei, bejahte, antworteten sie: „Dann gib uns die größte!“
       
       Doch Humor ist nicht für alle die Lösung. Etwa 40.000 Nasenoperationen
       werden Schätzungen zufolge jedes Jahr in Armenien durchgeführt. Eine enorme
       Zahl bei nur knapp drei Millionen Einwohner*innen, wobei auch viele extra
       aus dem Ausland anreisen. Denn Jerewans plastische Chirurg*innen zählen
       seit dem Ende der Sowjetunion zu den Besten ihres Fachs. Privatkliniken und
       öffentliche Krankenhäuser bieten eine Nasenoperation zu einem Preis von
       umgerechnet 450 bis 1.700 Euro an – ein Schnäppchen im internationalen
       Vergleich.
       
       Meistens sind es junge Frauen, die ihre Nasen korrigieren lassen. Denn in
       der patriarchalen armenischen Gesellschaft gilt eine ansehnliche kleine
       Nase als vorteilhaft auf dem Heiratsmarkt und im Berufsleben. Überall im
       Stadtbild findet man junge Mädchen mit einem Nasengips – ein untrügliches
       Anzeichen für eine kürzlich vorgenommene Korrektur.
       
       Großes Vorbild für die jungen Frauen sind dabei US-amerikanische Promis wie
       die armenisch-stämmige Influencerin Kim Kardashian und ihre Familie. Sie
       lassen sich regelmäßig in ihrer alten Heimat blicken und treten dort vor
       Zehntausenden begeisterten Armenier*innen auf.
       
       Karen Danielyan, einer der berühmtesten Nasenchirurgen Armeniens, hat gar
       unter dem Motto „Wer hat die größte Nase Armeniens“ einen alljährlich
       stattfindenden Wettbewerb ausgelobt, dessen Gewinnerin ihre Nase kostenlos
       bei ihm operieren lassen darf.
       
       ## Mit der Kunst Komplexe überwunden
       
       „Furchtbar“, sagt Harutyunyan. Das Model lehnt heute alle
       Schönheitsoperationen ab, weil diese die armenischen Frauen ihrer Identität
       berauben würden. Doch bis Harutyunyan ihre Nase lieben lernte, dauerte es
       seine Zeit.
       
       Als Kind wuchs sie vor allem bei ihren Großeltern auf. Ihr Großvater
       Khachatur Azizyan und ihre Großmutter Svetlana Sargsyan gehören zu den
       bekanntesten zeitgenössischen Maler*innen Armeniens, die auch international
       bekannt sind. Im Zentrum ihrer Kunst steht die Frau – sehr oft nackt oder
       halbnackt. Sie malen Frauen, die oft nicht dem Schönheitsideal in der
       armenischen Gesellschaft entsprechen – unter anderem ihr Enkelkind. Beide
       ermutigten sie, ihre Schönheit und Persönlichkeit zu akzeptieren und mit
       ihr zu leben. „Dank meiner Großeltern habe ich diese Komplexe überwunden.
       Ich kann mich jetzt lieben, wie ich bin. Vor allem meine Großmutter brachte
       mir bei, frei zu leben und frei zu denken“, sagt Harutyunyan.
       
       Und auch heute gibt es Künstler*innen, die sich mit der Schönheit des
       armenischen Models auseinandersetzen. „Die Bedeutung von Schönheit hat sich
       verändert, weil die Welt sich verändert hat. Armine ist vielleicht der
       Schlüssel, um das zu verstehen“, sagt Manuel Fazzini im Gespräch mit der
       taz. Der 34-jährige Modedesigner und Illustrator aus Rom versucht, mit
       seiner Kunst den Blick auf Schönheit zu weiten. Er hat Harutyunyan mit
       Pastellfarben gemalt.
       
       Nach dem Shitstorm in sozialen Medien zeigen sich Dutzende Künstler*innen
       aus Italien mit dem Model solidarisch – auf etwa 100 Bildern,
       Illustrationen, Graffiti und Skulpturen sind Harutyunyans Augenbrauen zu
       sehen– lustig, traurig oder ernst – doch immer buschig. Harutyunyan lacht
       darüber. Sie freut sich auch über die kuriosen Darstellungen.
       
       ## Sexistische Hasskommentare von überall
       
       Ihr Auftritt bei Gucci hat eine kleine Revolution in Armenien ausgelöst.
       „Das hässliche Mädchen“ ist nun nicht nur eine der bekanntesten, sondern
       auch eine der beliebtesten Persönlichkeiten in ihrer Heimat geworden. Auf
       der Straße und in Cafés in Jerewan wollen Menschen sich mit ihr
       fotografieren lassen. „Wir haben der Welt ein armenisches Wunder
       geschenkt“, schreibt sogar Anna Hakobyan, die Frau des armenischen
       Premierministers, auf ihrer Facebookseite.
       
       Und doch: Die konservative Gesellschaft im Südkaukasus ist nicht über Nacht
       tolerant geworden. Konzepte wie „Body Positivity“ kommen hier nicht vor. Es
       ist eher der armenische Nationalstolz, der viele Armenier*innen in solchen
       Superlativen schwärmen lässt. Auch Armine Harutyunyans Erfolgsgeschichte
       vermag bislang nicht das traditionelle Schönheitsideal zu verändern – weder
       in ihrer Heimat noch in der gesamten Region.
       
       Sexistische Hasskommentare bekommt sie auch aus dem Nachbarland Georgien.
       „O Gott, dieses armenische Modelmädchen ist sehr hässlich“, schreibt der
       ehemalige Justizminister und heutige Fernsehjournalist Nika Gvaramia bei
       Facebook. Auch in einer bekannten türkischen Comedyshow musste das Model
       viel Häme über sich ergehen lassen. Die Show beschränkte sich nicht nur auf
       frauenfeindliche Witze, sondern befeuerte auch eine antiarmenische
       Stimmung, [2][die seit dem türkischen Völkermord an den Armenier*innen]
       1915 in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelt ist.
       
       Und nicht nur ihr Aussehen scheint zu provozieren. [3][Auf ihrem
       Instagram-Profil] posiert Harutyunyan in der Fotoserie „Ave Sunstroke“
       (Sonnenstich) mit einer römischen Geste – dem nach oben gestreckten Arm.
       Sie trägt dabei goldenen Kopfschmuck in antikem römischem Stil und einen
       Lorbeerkranz. Dennoch unterstellen ihr viele Instagram-Nutzer*innen, sie
       zeige den faschistischen Gruß von Mussolini, und kritisieren sie stark.
       
       Doch wieso zieht das junge Model so viel Hass auf sich? Ist es Neid und
       Missgunst der anderen oder die Intoleranz gegenüber jemandem, der bewusst
       mit den armenischen Traditionen bricht?
       
       Harutyunyan ist das egal. Sie will nicht gegen die Beleidigungen und den
       Hass gegen sie vorgehen und hat beschlossen, all das einfach zu ignorieren.
       Damit mehr Kraft für Positives bleibt und sie sich auf ihre Arbeit
       konzentrieren könne. Ihren nächsten großen Fashionauftritt dürfe sie zwar
       noch nicht ankündigen. „Aber er kommt bald“, sagt sie.
       
       15 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kolumne-Fremd-und-befremdlich/!5550700
   DIR [2] /Tuerkei-und-Voelkermord-an-den-Armeniern/!5680917
   DIR [3] https://www.instagram.com/p/CBXbwkpn9Eu/?utm_source=ig_web_copy_link
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
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