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       # taz.de -- Roy Anderssons „Über die Unendlichkeit“: Triste Blicke, schlaffe Körper
       
       > Ein Pastor, der an Gott zweifelt: Regisseur Roy Andersson bleibt auch im
       > neuen Spielfilm „Über die Unendlichkeit“ seinem Langsamkeitsstil treu.
       
   IMG Bild: Wie üblich ist jedes Detail auch im neuen Spielfilm von Roy Andersson genau überlegt
       
       Die Filme von [1][Roy Andersson] haben den Vorteil, oder den Nachteil, dass
       man sie auf den ersten Blick als solche erkennt: [2][So baut nur Andersson
       seine Bilder]; so grau und verloren, aller nach oben strebenden Kräfte
       beraubt, sind die Menschen einzig bei ihm; so tropfhaft stehen nur
       Andersson-Wesen in Räumen, so statisch, an Gemälde, nicht an Fotografien
       erinnernd, sind die Einstellungen nur bei ihm komponiert. Und das gilt
       sogar da noch, wo es Abweichungen gibt, hier, im neuesten Film, der seiner
       ungewöhnlich kurzen Laufzeit zum Trotz den Titel „Über die Unendlichkeit“
       trägt, zum Beispiel gleich zu Beginn.
       
       Da nämlich fliegt einem ein Paar entgegen, Mann und Frau, beide nicht mehr
       ganz jung, eng umschlungen, um sie herum nichts als Nebel, ein bisschen wie
       bei Chagall, könnte man denken, aber eben: anderssongrau, an Gott, das
       Schöne und Transzendenz denkt man nicht. Weniger noch, wenn die beiden,
       nach anderen Einstellungen, keine davon heiter, fröhlich oder erfreulich,
       wiederkehren: Sie fliegen oder schweben noch immer, der Nebel freilich hat
       sich gelichtet, die Kamera tut, was sie bei Andersson sonst unterlässt, sie
       bewegt sich, auch sie schwebt oder fliegt langsam, von der rechten Seite
       zur linken, man sieht von oben eine Stadt mit Fluss und Kirche mit noch
       hochragenden Türmen, sonst aber ist in dieser Stadt alles in Trümmern. Die
       Häuser sind graue Gerippe, alles Schutt, alles Asche.
       
       Es spricht eine Stimme. Es ist die Stimme, die in „Über die Unendlichkeit“
       in vielen Szenen spricht, eine weibliche Stimme, sie sagt immer als Erstes:
       „Ich sehe.“ Das, von dem sie sagt, dass sie es sieht, sehen wir in der
       Folge dann auch. Es ist, als rufe die Stimme die Bilder herbei, sie kündigt
       sie an, sie kommen verlässlich, aber es ist nicht die Stimme Gottes, auch
       wenn sehr unklar ist, was für eine Instanz das ist, die hier spricht.
       
       Und was dann kommt, ist ausnahmsweise zwar auch einmal Hitler, aber nicht
       der Messias. Obwohl. In einer Szene nämlich, es ist eine staubige, gewunden
       ansteigende Straße zu sehen, Menschen stehen auf dem Bürgersteig, wartend,
       erscheint ein älterer Herr mit Dornenkrone auf dem Kopf und riesigem Kreuz
       auf den Schultern. Er wird mit Knuten geschlagen, kreuziget ihn, rufen die
       Menschen.
       
       Das allerdings ist ein Traum. Zwar sind alle Szenen in Andersson-Filmen
       eine Art Träume, Ausgeburten einer Fantasie, die bevorzugt gerade das
       Alltägliche und Banale zombiehaft unterhöhlt. Die Kreuzigungsszene jedoch,
       nicht anders inszeniert als das dem Anschein nach Reale, ist als Traum
       markiert. Den, der ihn träumt, kennt man schon, er ist, oder wäre, wenn es
       das gäbe in einem Andersson-Film, der Protagonist. Allerdings haben
       Andersson-Filme keine Protagonisten, der Zusammenhalt ist bestenfalls lose,
       was an Bedeutung in den Traumbildern und Konstellationen, den tristen
       Blicken und schlaffen Körpern, dem ergrauten Innen und dem ergrauten Außen
       zu erkennen ist, ist nicht narrativ zu erschließen.
       
       Der Priester jedoch trägt das Elend der Welt. Bevor er zur Kommunion Brot
       und Wein gibt, nimmt er im Nebenraum rasch selbst noch einen großen Schluck
       aus der Pulle und gerät bei der Verteilung von Leib und Blut Christi
       gehörig ins Wanken. Er hat einen Termin beim Therapeuten, der auch eine
       Wurst ist, Wurst unter Würsten; als er ihn dann ohne Termin aufsucht,
       drängt dieser ihn gemeinsam mit der Sprechstundenhilfe gleich wieder zur
       Tür hinaus. Es sind diese Szenen kaum je ohne Komik, kaum je ohne Tragik,
       irgendwo zwischen Loriot und Christoph Marthaler angesiedelt. Was
       ausbleibt: Pointen.
       
       ## Er wird geliebt oder gehasst
       
       Das ist anders als in den Werbefilmen im selben Stil, die Andersson lange,
       um Geld zu verdienen, gedreht hat. Begonnen hatte er anders, sein erster
       Film „A Swedish Love Story“ von 1970 war von einem lebendigen
       Impressionismus. Aber nicht das, was er wollte, sagte Andersson später.
       Sein Zweitling, „Giliap“, war dann schon auf dem Weg zu dem Andersson, den
       man kennt. Wurde aber ein Flop, ganz lange Pause, hunderte Werbefilme, im
       Jahr 2000 dann, 25 Jahre nach dem letzten Spielfilm, „Songs From the Second
       Floor“, da ist der Regisseur schon fast sechzig. Ein großer Erfolg, die
       Festivals laden ihn ein, die einzigartige Ästhetik wird geliebt oder
       gehasst.
       
       Zwischen den Filmen, die nun folgen, vergeht viel Zeit, meist sieben Jahre,
       diesmal nur fünf, aber „Über die Unendlichkeit“ ist kurz, es gibt, anders
       als sonst, auch keine Szenen, die sich monströs auswachsen, in denen die
       Dauer selbst noch zu einer weiteren Dimension wird. Dennoch: Andersson
       arbeitet ewig an jeder einzelnen, nur ein paar Minuten dauernden Szene, oft
       einen Monat, manchmal noch länger. Und das sieht man. Sei es die Kneipe
       drinnen, und wie stets gibt es auch in diesem Film eine Kneipe, in der ein
       Mann ohne jeden Anlass in den Ausruf „Es ist alles fantastisch“ ausbricht;
       oder sei es die Straße draußen, hier tanzen einmal drei Frauen vor einem
       Café.
       
       Jedes Bild sieht aus wie gemalt, und in der Tat kommen Anderssons Vorbilder
       nicht aus dem Film, sondern aus der Kunst, [3][Otto Dix] und George Grosz
       nennt er gern. Jedes Detail ist getüftelt, jede Bewegung auf den Millimeter
       geprobt, alles einer strikten, ins Cremiggraue gehenden Farbregie
       unterworfen. Das Dokumentarische, der Zufall, gar die Improvisation: Sie
       haben in den Filmen von Andersson nicht den Hauch einer Chance.
       
       Der Vorteil gegenüber dem Gemälde, und darauf muss man bei der Kunst namens
       Kino auch erst einmal kommen, ist, Finanzierung vorausgesetzt, die noch
       ausgeprägtere Kontroll- und Revisionsmöglichkeit. Man kann jede Szene, wenn
       es sein muss, zwanzigmal drehen, und öfter, bis alles so ist, wie der
       Künstler es will. (Und die Postproduktion gibt es auch noch.)
       
       Die Filme von Roy Andersson bewegen sich auf einem schmalen Grat. Auf der
       einen Seite geht es hinab zum reinen Kunsthandwerk, zu perfekt
       ausgearbeiteten Einstellungsfolgen, in denen alles stimmt, aber nichts mehr
       lebt. Auf der anderen Seite hinauf zum bedeutungsschwangeren Raunen: Das
       Graue, Entschleunigte, das Leiden des Priesters am Glaubensverlust, das
       will uns doch bestimmt etwas sagen über Leben und Tod, also Existenzielles.
       Und durchaus stürzt immer mal wieder eine Szene in den Andersson-Filmen
       nach unten oder nach oben. In den schlechteren Filmen sind es gar nicht so
       wenige.
       
       Wenn es aber gelingt, die Waage zu halten, wenn sich die Stimmung, die
       Figuren, die Komposition, die kontrollierte Bewegung, die Eigenlogik des
       Ganzen zu einem komplexen ästhetischen Eindruck glücklich verbinden, wenn
       diese Verbindung sich dann durch unterschiedliche Mischungen der Eindrücke
       und Gefühle von einer Szene zur nächsten aufs Eigentümlichste wandelt, wenn
       alles sich ähnelt, aber nichts ganz wie das andere ist: Dann ist das groß.
       
       In „Über die Unendlichkeit“ bleibt dieses Gelingen leider oft aus. Der Flug
       über die Stadt in Ruinen ist ein solcher Moment, auch der einsame Rufer in
       der alles andere als fantastischen Kneipe. Viele andere Szenen dagegen
       bleiben belanglos, zu viele scheinen aus dem bisherigen Werk fade vertraut.
       Aber dass das Gelingen heikler ästhetischer Dinge sich nicht von selbst
       versteht, sondern ein Glück ist, das auch der Schöpfer nicht in der Hand
       hat, das ist ein in jedem Einzelfall schwacher, aber im Ganzen ein
       triftiger Trost.
       
       17 Sep 2020
       
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