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       # taz.de -- Theater in der Zeit von Corona: Was man anders machen kann
       
       > Studentinnen einer Bühnenbildklasse haben das Hebbel-Theater in Berlin
       > umgestaltet. Es ist die Suche nach einem Neuanfang.
       
   IMG Bild: Auf die Bezüge der Sitze im Hebbeltheater sind Muster von Gabionen gedruckt
       
       Das ist schon ein seltsam martialischer Anblick. Im alten Hebbel-Theater,
       einem Jugendstilsaal, sind die Sitzreihen ausgebaut. Stattdessen stehen
       eckige Sitzelemente im Parkett, der Stoff bedruckt mit einem Muster, das
       von den Gabionen, mit Steinen befüllten Drahtgittern, kommt, die oft als
       Begrenzung benutzt werden. Visuell symbolisieren sie das Abstandhalten vom
       Nächsten, aber sie lassen sich auch für Gruppen zu einer flexiblen
       Sitzlandschaft zusammenstellen.
       
       Das erläutern mir bei einer Führung über Bühne, Parkett und Foyer die
       beiden Studentinnen Olivia Schrøder und Paula Meuthen und die
       Bühnenbildnerin Janina Audick an einem Modell. Sie gehören zusammen mit
       Anneke Frank, Helena Schaber und Yaming Wang zur Bühnenbildklasse von
       Janina Audick, Professorin an der Universität der Künste. Zusammen haben
       sie das Konzept entworfen für eine „Mutation“ des Hebbel-Theaters.
       
       Wie kann man aus der Not eine Tugend machen, wie mit den neuen Regeln für
       Besucher in der Zeit der Corona-Epidemie produktiv umgehen, das war die
       Ausgangsfrage, die sich [1][das Leitungsteam im Hebbel-Theater im Frühjahr
       stellte]. Aenne Quiñones, stellvertretende künstlerische Leiterin und
       Kuratorin, beauftragte deshalb Janina Audick mit den Studentinnen, ein
       Konzept für einen Umbau zu entwickeln. Es ging darum, nicht nur einen
       „amputierten Raum“ mit ausgebauten Sitzreihen zu sehen, „als stünde das
       Ende der Welt bevor“, erklärt Aenne Quiñones am Telefon, sondern,
       Hygienemaßnahmen inbegriffen, ein neues Raumerlebnis herzustellen.
       
       ## Von Paul B. Preciado kommt das Motiv der Mutation
       
       Das Leitmotiv der Mutation kommt aus einem Text von [2][Paul B. Preciado,
       „Vom Virus lernen“], der seit Mai auf der Website des Theaters steht. Der
       Philosoph setzt sich darin mit der Geschichte der Biopolitik auseinander,
       dem Begriff der Immunisierung und den Grenzen zwischen Gesunden und
       Kranken. Im Bezug auf Covid-19 – er war selbst daran erkrankt – schlägt er
       einen Weg der Heilung durch eine gewählte statt durch eine gezwungene
       Mutation vor. Und diese gewählte Mutation bedeutet vor allem auch
       sozialpolitisch einen anderen Umgang mit Ausschluss und Grenzen.
       
       Auf diesen Text beziehen sich viele Elemente der Umgestaltung. Bildhaft
       werden Antikörper, so nennen die Studentinnen große blaue tropfenförmige
       Podeste, die beweglich sind und Zuschauerraum und Bühne verklammern können.
       Auch auf der Bühne kann man sitzen, auf ausgebauten Klappsitzen aus dem
       Saal.
       
       Ein Thema der Mutation ist der Gegensatz zwischen Natur und Technik, analog
       und digital, der in vielen hybriden Elementen symbolisch aufgehoben wird.
       
       ## Ein Mensch im Automaten
       
       Paula Meuthen beschreibt zum Beispiel den Getränkeautomaten, der statt
       einer Bar vor dem Theater steht: Aber in ihm steht doch ein Mensch und
       füllt die Fächer auf. Menschen übernehmen wieder die Arbeit von Automaten.
       Oder beim Eingangspersonal wird das Digitale zu Spiel: Sie spiegeln den
       Besucher:innen, die das Gebäude über zwei Schlangen für die rechte und
       linke Theaterhälfte betreten, ihr eigenes Gesicht in einem
       Smartphone-Display gemorpht wieder. Im Foyer trennt ein Vorhang aus Wasser
       die rechte und die linke Seite. Und zwischen den Zuschauern, die im Rang
       doch noch auf den alten Sitzen Platz nehmen können, sind jeweils mehrere
       Plätze von Moos besetzt.
       
       Das alles ist erst mal ein Spiel, um Preciados These, wir müssen mutieren,
       um der Situation zu begegnen, einen visuellen und formalen Rahmen zu geben.
       Der Umbau, temporär und erst mal bis Dezember gedacht, wurde von Janina
       Audick und den Studentinnen auch mit den Künstlern besprochen, die dort
       arbeiten werden, um flexibel für das zu sein, was sie brauchen.
       
       Für das Programm [3][„Radical Mutation“, das am 23. September] beginnt,
       wurden drei Gastkuratorinnen ans Haus geholt, Nathalie [4][Anguezomo Mba
       Bikoro,] Saskia Köbschall und Tmnit Zere, die an mehreren Abenden (bis 4.
       Oktober) Geschichten von Schwarzen und Schwarzen Deutschen in Berlin und
       Deutschland aufgreifen, Spuren folgen aber auch die Verluste markieren, wo
       Dokumente fehlen. Das Programm will Brücken schlagen zwischen der Gegenwart
       und „historischen Kämpfen für Gleichberechtigung, Antirassismus und
       Diversität“. Zur Eröffnung „Nobody Knows the Trouble I’ve seen“ kommt neben
       vielen anderen die [5][Comedian İdil Baydar,] die zur Zielscheibe rechter
       Bedrohungen geworden ist.
       
       Doch bevor es losgeht, die ersten Besucher:innen wieder kommen, muss erst
       mal das Moos Platz nehmen, der Wasservorhang laufen, die Gabionensitze
       fertig werden. Für die Studentinnen von Janina Audick war dieser Auftrag
       auf jeden Fall eine einmalige Gelegenheit, ein Theater umzubauen und, wie
       Olivia Schrøder und Paula Meuthen sagen, den Groll über die
       Coronazwangspause, den Frust über die neue Realität umzulenken in etwas,
       das Spaß macht und Weichen stellt für die Frage, was kann man anders
       machen.
       
       20 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Berliner-Stimmen-aus-der-Quarantaene-2/!5685906
   DIR [2] https://www.hebbel-am-ufer.de/hau3000/vom-virus-lernen/
   DIR [3] https://www.hebbel-am-ufer.de/radical-mutation/
   DIR [4] /Berliner-Stimmen-aus-der-Quarantaene-2/!5685906
   DIR [5] /Comedian-dil-Baydar-ueber-Morddrohungen/!5694869
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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