URI: 
       # taz.de -- Nach dem Brand in Moria: Prüfung an der Außengrenze
       
       > Die Flüchtlinge auf Lesbos sollen in einem neuen Camp unterkommen.
       > Womöglich ein Pilotprojekt für eine neue EU-Migrationspolitik.
       
   IMG Bild: Auf dem Weg zum neuen Lager
       
       Lesbos/Heidelberg taz | Als kämen sie direkt aus einem Krieg, ziehen am
       Freitagmorgen auf Lesbos Hunderte Flüchtlinge zum Tor des neuen Lagers, das
       wenige Kilometer außerhalb der Inselhauptstadt liegt. Sie haben Bündel
       dabei, Taschen, Decken und Isomatten, manche ziehen ihre Habseligkeiten in
       Mülltonnen hinter sich her, andere haben sie auf alte Obstpaletten
       geschnürt, die sie über den Asphalt schieben. Einige können nur mit Krücken
       oder Stöcken laufen, andere sitzen im Rollstuhl.
       
       Sondereinheiten der griechischen Polizei hatten schon am Donnerstag
       begonnen, die Menschen auf den Straßen zusammenzutreiben, wo sie seit dem
       Brand im Lager Moria ausgeharrt hatten. Die Polizisten rufen „Bewegung“,
       sie tragen weiße Schutzanzüge und Sonnenbrillen.
       
       Nach über einer Woche mit viel zu wenig Wasser, Nahrung und Schlaf sind
       viele der Flüchtlinge völlig erschöpft, dehydriert, sie stützen sich auf
       ihre Bündel, während sie vor dem Camp auf Einlass warten. In den
       umliegenden Feldern waschen sie sich an Leitungen, die Abwasser Richtung
       Meer transportieren.
       
       Der Aufruhr, die Proteste der vergangenen Tage sind einer entkräfteten Ruhe
       gewichen.
       
       Für 5.000 Menschen soll mittlerweile im Camp Platz sein, in Zelten, die das
       Militär aufgebaut hat, das war die jüngste Information der Behörden. 5.000
       aber waren schon bis Donnerstagabend in das Camp auf einem alten
       Schießübungsplatz eingezogen. 1.000 warteten am Freitagmorgen vor dem
       Eingang. Insgesamt befinden sich nach wie vor etwa 12.000 Flüchtlinge auf
       der Insel. Viele werden in dem neuen Lager wohl erst mal eine Weile auf dem
       Boden schlafen müssen.
       
       Der Presse ist der Zugang zum Gelände ebenso untersagt wie
       RechtsanwältInnen, und noch immer ist unklar, ob die Menschen, die das Camp
       betreten, wieder herausgelassen werden. JournalistInnen, die sich in der
       Nähe aufhalten, werden immer wieder von der Polizei verscheucht. Von
       umliegenden Hängen ist zu beobachten, wie Menschen in langen Schlangen
       stehen. Wasser wird rationiert in Flaschen verteilt. Bagger planieren das
       verdorrte Buschland, weiße Zelte mit blauem UN-Logo werden aufgestellt. Es
       ist immer noch heißer als 30 Grad, aber es gibt keine Abkühlung. Duschen
       sind keine aufgebaut und das nur wenige Meter entfernte Meer ist
       unerreichbar: Der Zugang ist mit Stacheldraht versperrt.
       
       Was es gibt: Eine neue Polizeiwache im Camp. 300 BeamtInnen wurden dorthin
       verlegt, die Polizeiführung in Athen schickte einen hohen Beamten als
       Kommandanten.
       
       Jeder, der in das neue Lager kommt, wird auf Corona getestet. Bis
       Freitagvormittag sind dabei 150 Covid-19-Fälle entdeckt worden. Es dürften
       mehr werden: Wie schon in Moria ist es auch im neuen Zeltlager völlig
       unmöglich, Abstand zu halten. Die Infizierten kommen in einen
       Quarantänebereich. Sie erhielten medizinische Hilfe, sagte UNHCR-Sprecherin
       Shabia Mantoo.
       
       ## Verweigerung der Einreise
       
       Ungefähr 4.000 Flüchtlinge halten sich weiter in den Hügeln rund um das
       abgebrannte Lager oder an einer Straßensperre in der Nähe der
       Inselhauptstadt auf. Sie wollen nicht in das neue Lager, fürchten, dort
       dauerhaft eingesperrt zu werden. Und auch die Anwohner sind mit der
       Entwicklung unzufrieden: Der Regionalrat der Nordägäis erwägt, zum
       Generalstreik gegen das neue Lager aufzurufen. Er fordert, dass alle
       ehemaligen Insassen Morias von der Insel gebracht werden. [1][Doch eben
       danach sieht es nicht aus.] In Deutschland hat sich die Regierungskoalition
       lediglich auf die Aufnahme von 1.553 weiteren Flüchtlingen von den
       griechischen Inseln geeinigt, auch sollen „100 bis 150“ unbegleitete
       Minderjährige aus Moria hier aufgenommen werden.
       
       Der Brand im Lager Moria könnte aber den Weg freigemacht haben für eine
       tiefgreifende Veränderung im europäischen Asylsystem, die vor allem die
       Bundesregierung seit einiger Zeit voranzutreiben versucht.
       
       In Berlin forderte [2][Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)] am
       Mittwoch ein neues europäisches Asylsystem. Es solle künftig an der
       Außengrenze entschieden werden, wer schutzbedürftig sei, und die
       Schutzbedürftigen sollten anschließend verteilt werden, sagte Seehofer im
       Bundestag. Zwei Drittel der Asylbewerber könnten so gar nicht erst
       einreisen. „Und es ist ein Unterschied, ob ich eine Million in Europa zu
       verteilen habe oder zwei-, dreihunderttausend“, sagte er. Auf die Frage, ob
       er wolle, dass „die Asylverfahren nicht mehr in Deutschland stattfinden
       sollen, sondern alle in den Hotspots selbst, sodass nur noch Anerkannte
       verteilt werden“, sagte Seehofer: „Letzteres ist unser Ziel.“
       
       Das neue Camp auf Lesbos könnte dafür zum Pilotprojekt werden.
       
       Schon im vergangenen November hatte Seehofer diesen Vorschlag streuen
       lassen. Das europäische Asylsystem solle „umorientiert“ werden, hieß es in
       einem Papier seines Ministeriums, das als eine Art Fahrplan für die
       deutsche EU-Ratspräsidentschaft gilt, die noch bis Ende des Jahres läuft.
       Kern des Konzepts sind „verbindliche Vorprüfungen“ von Asylgesuchen an den
       Außengrenzen und zwar in „Closed Centers“, also Internierungseinrichtungen.
       Wer unbegründet einen Asylantrag stellt – etwa wegen Einreise aus einem
       sicheren Drittstaat, falscher Angaben zur Identität oder aus anderen
       Gründen –, soll gar nicht erst einreisen dürfen, heißt es in dem Papier.
       
       Die Lager hätten damit eine Art exterritorialen Charakter. „Verweigerung
       der Einreise heißt Rückkehr“, heißt es weiter. „Dabei muss Frontex helfen.“
       Soll heißen: Wer bei der Vorprüfung ausgesiebt wird, soll direkt
       abgeschoben werden. Eine noch zu gründende EU-Asylbehörde namens „Europan
       Union Agency for Asylum“ soll entscheiden, in welchem EU-Staat das
       eigentliche Asylverfahren der Übrigen durchgeführt wird.
       
       ## „Wir schaffen Dublin ab“
       
       Diese Behörde dürfte aus einer Aufwertung des bereits existierenden
       Europäischen Asyl-Unterstützungsbüros EASO mit Sitz in Malta hervorgehen.
       Dessen Sprecher weiß von den Plänen, dazu sagen mag er nichts. „Das
       entscheidet alles die Politik“, sagt er. Doch wenn es künftig
       „Vorabprüfungen“ von Asylgesuchen geben soll, „dann wären wir daran
       natürlich beteiligt“.
       
       Das Ganze wirft eine Reihe völlig ungeklärter Fragen auf, zu denen sich das
       Bundesinnenministerium auch bei Erörterungen gegenüber NGOs sehr bedeckt
       gehalten hat. Denn das EASO darf – jedenfalls auf Grundlage seines jetzigen
       Mandates – keine Entscheidungen darüber treffen, wer Asyl bekommt oder für
       ein Verfahren zugelassen wird. Ebenso wenig ist klar, wie sich Flüchtlinge
       gegen eine Ablehnung bei einer solchen Vorprüfung rechtlich zur Wehr setzen
       können. Und was ist mit jenen, die abgelehnt, aber gar nicht abgeschoben
       werden können? „Mit dem bisherigen EU-Recht ist das alles nicht zu machen“,
       sagt Franziska Vilmar, Asylexpertin bei Amnesty International.
       
       „Luftschlösser“, sagt auch der Jurist Robert Nestler von der NGO Equal
       Rights Beyond Borders zu den Plänen für die Vorabprüfungen in Lagern an den
       Außengrenzen. „Ohne extrem viele Gesetze zu ändern, kommt man in solchen
       Zentren auch zukünftig nicht an einem regulären griechischen Asylverfahren
       vorbei.“
       
       Die EU könnte sich davon aber nicht abhalten lassen. Am Mittwoch und
       Donnerstag stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre
       Migrationsagenda vor. Das eigentlich schon für Mai angekündigte Reformpaket
       soll die EU-Asylpolitik stärker vereinheitlichen – und auch den größten
       Konfliktfaktor abschaffen: die Dublin-Regelung. Diese legt fest, dass im
       Wesentlichen die Staaten an den Außengrenzen für die ankommenden
       Flüchtlinge zuständig sind. Das hatte immer wieder zu heftigen
       Streitigkeiten innerhalb der Union geführt. Seit Jahren laboriert die EU
       erfolglos an einer möglichen Reform. Am vergangenen Mittwoch hatte von der
       Leyen sich überraschend deutlich geäußert: „Wir schaffen Dublin ab.“ Dazu
       würde Seehofers Modell der Vorprüfungen passen. Denn jene, die diese
       bestehen, sollen auf andere Staaten verteilt werden. Das würde die
       Außengrenzenstaaten entlasten.
       
       „Ja, mit dem geltenden EU-Recht ist das unmöglich. Aber sie werden das
       Recht ändern, um es möglich zu machen“, sagt Amandine Bach,
       Migrationsexpertin von der Linken-Fraktion im EU-Parlament. Sie sieht
       Vorabprüfungen an den Außengrenzen als „zentrales Element“ der
       Migrationsagenda von der Leyens. Im April wurde ein Entwurf der Agenda
       durchgestochen. „Daraus geht klar hervor, dass der Schengener Grenzkodex,
       die EASO-Verordnung und weitere Gesetze geändert werden sollen, um das
       Modell einführen zu können“, sagt Bach. Die Einreise solle erst dann
       vollzogen sein, wenn die Prüfung gezeigt habe, dass ein Asylantrag Aussicht
       auf Erfolg hat.
       
       Alle anderen Geflüchteten werden so behandelt, als seien sie nie dagewesen,
       und werden wieder abgeschoben, bevor sie überhaupt offiziell die EU
       betreten haben.
       
       19 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /EU-Fluechtlingspolitik-und-Moria/!5710039/
   DIR [2] /Aufnahme-Gefluechteter-nach-Moria-Brand/!5709883
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Grillmeier
   DIR Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
   DIR Flüchtlinge
   DIR Migration
   DIR Griechenland
   DIR EU-Grenzpolitik
   DIR Horst Seehofer
   DIR EU-Grenzpolitik
   DIR Brandkatastrophen
   DIR Flüchtlinge
   DIR IG
   DIR EU-Flüchtlingspolitik
   DIR Griechenland
   DIR Griechenland
   DIR Samos
   DIR Kolumne Der rote Faden
   DIR Flucht
   DIR Moria
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Missionschef über Flüchtlinge in Bosnien: „Die Bedingungen sind schrecklich“
       
       Nach dem Brand im Camp Lipa sind die Menschen zurückgekehrt. Der
       Missionschef der Internationalen Organisation für Migration fordert, sie
       rauszuholen.
       
   DIR Wie (nicht) über Moria gesprochen wurde: Dem Bundestag nicht der Rede wert
       
       Deutsche Abgeordnete scherten sich bis zum Brand im Geflüchtetenlager Moria
       kaum um die Menschen dort. Das zeigt eine taz-Analyse.
       
   DIR Migrationsexperte zum EU-Asylpakt: „Leider nichts Neues“
       
       Mit Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen, wie es jetzt geplant ist,
       könne sich das Desaster von Moria wiederholen, sagt der Migrationsexperte
       Manos Moschopoulos.
       
   DIR EU legt Migrationspakt vor: Ein nahezu teuflisches Konstrukt
       
       Der von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vorgelegte Migrationspakt
       ist eine Aneinanderreihung von Leerstellen. Fortschritte fehlen.
       
   DIR Von der Leyen legt Migrationspakt vor: EU setzt auf Tempo und Härte
       
       Der Asylplan von EU-Kommissionschefin von der Leyen sieht schnellere
       Abschiebungen Geflüchteter an den Außengrenzen vor. Pro Asyl ist entsetzt.
       
   DIR Geflüchtete in Griechenland: Auf der Insel ins Ungewisse
       
       Was passiert, wenn die Geflüchteten auf den Inseln ihren Asylbescheid
       bekommen? Sie kommen aufs Festland. Das verbessert ihr Leben nicht
       unbedingt.
       
   DIR NGOs kritisieren griechische Asylpolitik: „Systematischer Bruch von EU-Recht“
       
       Brüssel müsse ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Athen einleiten,
       fordern zwei Hilfsorganisationen. Sie werfen Griechenland sogenannte
       Pushbacks vor.
       
   DIR Flüchtlingslager Vathy: Brand auf Samos unter Kontrolle
       
       Nach Medienberichten soll es in einem Bereich gebrannt haben, in dem
       unbegleitete Minderjährige wohnen. Rund 60 seien nun in ein Hotel gebracht
       worden
       
   DIR Moria und Menschlichkeit: Härte gegen Arme bringt nix
       
       Die schnelle Hilfe für Menschen in Not wird oft abmoderiert damit, dass sie
       negative Langzeitfolgen hätte. Dabei sind wir langfristig eh alle tot.
       
   DIR Nach dem Brand in Moria: 6.000 Menschen in neuem Lager
       
       In dem eilig errichteten Lager sind etwa die Hälfte der Geflüchteten, die
       vorher in Moria lebten, untergebracht. 157 von ihnen sind positiv auf
       Corona getestet worden.
       
   DIR R2G in Berlin und Moria: Menschlichkeit mit Hintertürchen
       
       Berlin will Geflüchteten aus Moria die Familienzusammenführung mit
       Angehörigen in Berlin erleichtern. Doch die Sache hat einen Haken.