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       # taz.de -- Schwangerschaftsabbrüche im Film: Mehr Lücke als Mut
       
       > Schwangerschaftsabbrüche kommen im deutschen Film und Fernsehen kaum vor.
       > Und wenn doch, tragen sie häufig zur Stigmatisierung bei.
       
   IMG Bild: Die Netflix-Serie „Sex Education“ will über Abtreibungen aufklären
       
       Ob im Schulunterricht, in öffentlichen Diskursen oder im Bundestag, wenn es
       um das Thema Abtreibungen geht, begegnet einem fast überall ein sehr lautes
       Nicht-darüber-Sprechen. Auch im deutschen Film und Fernsehen tauchen
       Schwangerschaftsabbrüche nur selten auf.
       
       Die Rolle von solchen Darstellungen und deren Einfluss auf die
       Zuschauer*innen wird in den USA viel erforscht. Im deutschsprachigen Raum
       hingegen gibt es nur vereinzelte Untersuchungen, zum Beispiel von der
       Filmhistorikerin Ursula von Keitz über Abbrüche in Filmen der Weimarer
       Republik. [1][Nach einem Blick in über fünfzehn neuere deutsche Filme und
       Serien wird klar]: Besonders progressiv sind RTL, ZDF und Co leider
       heutzutage auch nicht.
       
       Was am häufigsten beim Thema Abtreibung gezeigt wird, ist eine Lücke. Der
       Abbruch selbst wird ausgespart und damit mystifiziert, zum Beispiel bei der
       RTL-Soap „GZSZ“. Als Denise erneut schwanger ist, fordert ihr Mann wütend
       einen Abbruch. Der paternalistische Hausarzt hingegen gibt ihr statt
       hilfreichen Informationen nur den Rat, zum Eheberater zu gehen. Allein
       gelassen und innerlich zerrissen, schreit Denise ihren Mann ein paar Folgen
       später verzweifelt an: „Es gibt kein neues Baby mehr!“
       
       Wenn Abtreibungen nicht zwischen Cliffhänger und der nächsten Folge
       verschwinden, wird auch auf andere Möglichkeiten zurückgegriffen: Die
       ungewollt schwangere Person entscheidet sich in letzter Minute doch um
       („Lindenstraße“). Sie gibt sich einem selbstzerstörerischen Alkohol- und
       Drogentrip hin und verliert den Fötus in einer Fehlgeburt („Sophiiiie!“).
       Oder sie erhält plötzlich eine Krebsdiagnose, durch die die Schwangerschaft
       ohnehin nicht ausgetragen werden kann („Der Bergdoktor“).
       
       ## Mehr Hürden als in der Realität
       
       Wenn ein Abbruch mehr Raum im Plot bekommt, dann nur bei Charakteren, die
       herzlos und kalt sind und eine ableistische Sprache verwenden, also
       diskriminierend gegenüber Menschen, die körperliche oder psychische
       Beeinträchtigungen haben („Das Kind in meinem Bauch ist behindert, ich
       will’s nicht.“ („Lindenstraße“). Oder in historischen Darstellungen wie im
       ZDF-Fernsehfilm „Aufbruch der Freiheit“, der zwar die feministischen
       Pro-Choice-Kämpfe der 1970er nachzeichnet, aber auch um eine dramatische
       Abtreibung, bei der die Hauptfigur fast verblutet, nicht herumkommt.
       
       Dramatische Darstellungen sind im TV nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil,
       gerade weil sie sich vom „normalen Leben“ unterscheiden, entsteht
       Unterhaltungswert. Dabei wird das Drama jedoch unterschiedlich eingesetzt,
       wie die Soziologinnen Gretchen Sisson und Katrina Kimport des
       US-amerikanischen Forschungsprogramms „Abortion Onscreen“ an der University
       of California in San Francisco bemerken: „Viele medizinische Verfahren
       werden im TV ungefährlicher gezeigt, als sie es im echten Leben sind, zum
       Beispiel die Herz-Lungen-Wiederbelebung. Abtreibungen hingegen werden viel
       riskanter als in echt dargestellt.“
       
       Dies zeigt sich zum Beispiel in der Inszenierung von Barrieren, die in der
       Realität nicht existieren. So hat die Figur Emily in „GZSZ“ nicht nur ein
       Beratungsgespräch im Krankenhaus, sondern dort auch noch einen zusätzlichen
       Anästhesietermin und bezieht am Tag des Abbruchs ein Bett für einen
       stationären Aufenthalt. Tatsächlich werden laut Pro Familia jedoch nur ein
       Bruchteil aller instrumentellen Schwangerschaftsabbrüche stationär
       durchgeführt. 2018 waren es 3 Prozent. Dass Emily so oft ins Krankenhaus
       muss, ist kein Zufall.
       
       ## Stoff für Schicksalsmomente
       
       So trifft sie dort auf ihren arbeitenden Bruder und seine Frau, die ihr
       verurteilende Blicke zuwerfen und Sätze äußern, die an
       Anti-Abtreibungs-Gruppen denken lassen („Ich werde nicht zusehen, wie du
       dein Kind umbringst.“). Auch diese Barriere gehört im TV häufig dazu: eine
       nahestehende Person als moralische Gegenspieler*in, die Selbstbestimmung um
       jeden Preis verhindern will. Ob emotional missbrauchende Partner, eine
       christlich-fundamentalistische Mutter oder ein Familienmitglied, das
       findet, mit 14 sei das Mädchen noch viel zu jung für eine Abtreibung
       („Lindenstraße“), wenn der Abbruch verhindert wird, gipfelt dies meistens
       in harmonischen Darstellungen einer glücklichen Familie. Über die
       emotionale Gewalt jedoch kein Wort.
       
       Im Gegensatz dazu werden Barrieren, die tatsächlich existieren,
       verschleiert. Fast nie wird erwähnt, wie teuer ein Abbruch eigentlich ist,
       dass es in Deutschland einen verpflichtenden Beratungstermin und eine
       dreitägige Wartepflicht gibt und dass gar nicht mal so viele Ärzt*innen
       außerhalb von Großstädten einen Abbruch überhaupt durchführen. In der
       deutsch-österreichischen Produktion „Der Bergdoktor“wird der schon
       zweifachen Mutter Theresa vom Hausarzt sogar eine Abtreibungspille per
       Rezept verschrieben, die sie dann zu Hause einnehmen kann. Auch wenn diese
       Darstellung einer langjährigen Forderung vieler
       Pro-Choice-Aktivist*innen entspricht, ist die Einnahme solch einer
       Tablette sowohl in Deutschland als auch in Österreich nur unter den Augen
       einer*s Gynäkolog*in erlaubt.
       
       Seifenopern, Medizindramen oder Krimiserien brauchen Stoff für
       Schicksalsmomente, wofür sich Abtreibungen gut eignen. Aber wenn solche
       Darstellungen kein Gegengewicht erhalten, zum Beispiel Abtreibungen, die
       erleichternd sind, oder ungewollt Schwangere, die ihre Entscheidung ohne
       Verurteilung treffen können, dann werden sie, um mit Chimamanda Ngozi
       Adichie zu sprechen, zur gefährlichen single story.
       
       ## Zuschauer*innen professionell informieren
       
       In den USA gibt es Versuche, dies zu umgehen. Wenn Serienmacher*innen ihre
       Medienmacht verantwortlich einsetzen wollen, können sie sich an das
       Hollywood Health & Society Center der University of Southern California
       wenden. Dort bekommen sie professionelle und genaue Infos zu medizinischen
       Vorgängen und deren Folgen. Auch Sisson wurde schon mehrmals angefragt. Den
       Drehbuchautor*innen von „Grey’s Anatomy“riet sie davon ab, die
       Abtreibungspille als gefährlich darzustellen. „Die Tablette ist ohnehin
       schon sehr stark stigmatisiert, aber eigentlich eine der sichersten
       Abbruchsmethoden“, erzählt Sisson der taz. Weil das Team einen Grund
       brauchte, die Figur in die Notaufnahme zu schicken, ließen sie diese statt
       der Abtreibungspille dubiose Kräuter im Internet bestellen.
       
       Neben „Grey’s Anatomy“ gibt es auch andere englischsprachige Serien, die
       eine Abtreibungsstory nutzen, um Informationen an das Publikum zu
       vermitteln, zum Beispiel „Sex Education“, „Shrill“ oder „Please Like Me“.
       In Letzterer bekommt die Figur Claire in einer Praxis genaue Informationen
       zum Ablauf, nimmt dann zu Hause die Abtreibungspille ein, sitzt etwas
       später krampfend auf dem Klo und wird nach einem „Ich glaube, es ist
       geschafft“ erleichtert und zufrieden dargestellt.
       
       Auch im Film „Never Rarely Sometimes Always“ begleiten wir die jugendliche
       Autumn zu Planned Parenthood, wo sie und damit auch die Zuschauer*innen
       wertneutrale, respektvolle und informative Beratungen zu Eingriff, Kosten
       und Nachwirkungen erhält.
       
       In einer Onlinediskussion zum Film kritisiert die Sexualpädagogin Lisa
       Hallgarten das Auslassen oder Verfälschen wichtiger Informationen mit: „I
       think to misinform people is a form of abuse.“ (dt. Ich denke, Menschen
       falsch zu informieren, ist auch eine Form von Missbrauch). Obwohl
       Hallgarten sich mit ihrer Aussage auf das Vorgehen von
       Fake-Beratungsstellen bezieht, von denen die Figur Autumn im Film unwissend
       eine besucht, lässt sich diese Aussage auch gut in Richtung Drama-TV
       schicken.
       
       20 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.instagram.com/abortion.tv/?hl=de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franzis Kabisch
       
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