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       # taz.de -- Erzieher über seine Berufszeit: „Ich wollte viele Kinder retten“
       
       > Ronald Prieß legte sich als Kind mit prügelnden Lehrern an, als
       > Erwachsener setzte er sich beruflich für Kinder ein – zuletzt als
       > Referent der Linken.
       
   IMG Bild: Will sich weiter engangieren: Ronald Prieß auf seinem Balkon in Altona
       
       Herr Prieß, Sie sind seit elf Jahren Referent für Kinderpolitik bei der
       Hamburger Linken. Nun hören Sie auf? 
       
       Ronald Prieß: Ich gehe Ende September in Rente.
       
       Fällt Ihnen das leicht? 
       
       Persönlich ja. Ich freue mich, auch wenn ich nicht ganz genau weiß, was auf
       mich zukommt.
       
       Als Beruf lernten Sie Erzieher. Was brachte einen jungen Mann in den
       1970ern dazu? 
       
       Ich versuchte es nach dem Abitur kurz mit Jura, mein Vater war Anwalt. Aber
       mir wurde bald klar, das sind für mich nicht die richtigen Lösungen. Da ich
       gerne mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet habe, zum Beispiel auf
       Jugendreisen, wechselte ich zur Fachschule für Sozialpädagogik in Altona.
       
       Erlebten Sie als Kind ungerechte Behandlung? 
       
       Ja. Vor allem erlebte ich als Jugendlicher, wie Kinder im weiteren Umfeld
       geschlagen wurden. Ich wollte so viele Kinder wie möglich retten und auch
       später mal ein Pflegekind nehmen.
       
       Was erlebten Sie selbst? 
       
       Das frühste, was ich erinnere: Es gab in den 50ern die
       Kinderlandverschickung. Da musste ich hin, weil ich dünn war.
       
       Wie alt waren Sie denn? 
       
       Noch vier. Ich kam in ein katholisches Heim. Die hatten da sehr rigide
       Vorstellungen. Kinder durften nur zu bestimmten Zeiten auf Klo. Über Nacht
       gab es nur einen Topf fürs Pinkeln. Es hieß: Es wird gegessen, was auf den
       Tisch kommt. Wer das nicht tat, musste ins Bett. Kriegte kalte Wickel.
       
       Wegen Nicht-Aufessens? 
       
       Ja. Ich mochte den Käse nicht und ließ ihn liegen. Da musste ich mit kalten
       Wickeln ins Bett. Da durfte man nicht raus, sonst hätten sie einen
       festgebunden.
       
       Wie lange waren Sie dort? 
       
       Zum Glück nicht bis zum Ende. Sie sagten meiner Mutter, dass ich mich
       schlecht benähme. Ich verlangte den Hörer, und sagte: „Mutti die sind
       scheiße hier.“ Da holte sie mich ab.
       
       Wieso schlecht benommen? 
       
       Na, ich benutzte trotzdem diesen Topf, wenn ich groß musste. Meine zweite
       Erfahrung betrifft die Schule. Ich wurde als Linkshänder gezwungen mit
       rechts zu schreiben. Ich war auch nicht damit einverstanden, dass vorne der
       Rohrstock lag und damit geschlagen werden konnte.
       
       Wann wurde der benutzt? 
       
       Wer sich nicht an die Regeln hielt, der musste die Hand auf den Tisch legen
       und dann wurde rübergehauen. Der Rohrstock war aber eher das Symbol.
       Eigentlich gingen die Lehrer rum und haben Kopfnüsse verteilt oder zogen
       die Kinder am Ohr hoch. „Haben wir wieder mal nicht aufgepasst!“ Lehrer
       durften damals schlagen. Ich sagte, das ist ungerecht, nur dafür musste ich
       nachsitzen.
       
       Sie wollten als Erzieher besser zu Kindern sein? 
       
       Ja. Das kann man sagen.
       
       Gab es viele Erzieherschüler, die das wollten? 
       
       Es war 1978. Da dachten viele so. Allerdings kaum junge Männer. Es gab
       wenige in der Klasse.
       
       Der Beruf wird nicht gut bezahlt. Hat Sie das nicht gestört? 
       
       Geld war mir egal. In der Folge ist meine Rente niedrig.
       
       Wo war Ihre erste Arbeit? 
       
       Ich machte erst Praktikum im Kinderhaus Altona und dann im Kinderhaus
       Heinrichstraße. Da bekam ich auch die erste Stelle.
       
       Ein linkes Kinderhaus, das um seine Existenz kämpfte. 
       
       Ja. Beide Kinderhäuser waren Teil der Kinderladenbewegung. Ich kam in der
       Heinrichstraße mit den Kindern gut klar, mit der Hierarchie nicht so gut.
       
       Ach, Hierarchie gab's da? 
       
       Die gab es auch.
       
       Wie kam es, dass Sie sich für Politik interessierten? 
       
       Über meine Großeltern mütterlicherseits, die waren in ihren jüngeren Jahren
       Mitglied der SPD. Über deren Kontakte zur Arbeiterwohlfahrt fuhren wir als
       Kinder in den 60ern auf Jugend- und in Zeltfahrten mit. Da waren auch Leute
       vom Sozialistischen Studentenbund SDS. Die hatten eine ganz andere
       Pädagogik drauf.
       
       In den Sommercamps? 
       
       Genau. Da wurde auch mal gegen die Lagerleitung rebelliert. Da gab es ein
       Knutschzelt.
       
       Was ist das denn? 
       
       Da wurde geübt (lacht).
       
       Oh. Die Jugendlichen übten? 
       
       Ja. Nicht die Erwachsenen mit den Jugendlichen. Aber sie haben das den
       Jugendlichen erlaubt. Als ich älter wurde, habe ich auch Fahrten begleitet.
       Darüber wurde ich politisch. Mein Vater war übrigens nicht begeistert von
       meinem Werdegang. Er verweigerte mir den Unterhalt, weil ich
       „Berufsrevolutionär“ sei.
       
       Wie kam er darauf? 
       
       Durch ein Bild-Foto, das mich bei der Jenkelhaus-Besetzung zeigt. Wo er
       recht hat: Ich war politisch aktiv und arbeitete in einer autonomen Gruppe.
       
       Wie ging es beruflich weiter? 
       
       1983 verlor ich den Kita-Job. Da begann ich mit der Arbeitslosenarbeit. Wir
       gründeten die Erwerbslosen- und Jobberinitiative in Hamburg.
       
       Sie haben Ihre Situation zum politischen Thema gemacht? 
       
       Ja. Wir betrachteten Erwerbslosigkeit im Kontext der gesellschaftlichen
       Entwicklung. Anfang der 80er kam zum ersten Mal Massenarbeitslosigkeit auf.
       
       Es kamen die geburtenstarken Jahrgänge in die Berufe. 
       
       Das stimmt. Hinzu kam damals die Heimreform. Heimerziehung war Teil meines
       Berufes, aber auch Teil einer politischen Bewegung in Hamburg. Alle Heime,
       die geschlossen waren, wurden aufgemacht. Damit, und mit der Lage in
       Gefängnissen, haben wir uns in der Arbeitslosenbewegung auch beschäftigt.
       Leute, die aus dem Knast kamen, machten mit.
       
       Sie waren erwerbslos, aber hatten viel zu tun? 
       
       Genau. Neben Beratungsarbeit haben wir in Gruppen politisch diskutiert.
       
       Wie finanzierten Sie das? 
       
       Mit Beiträgen und Spenden.
       
       Konnte man damals vom Arbeitslosengeld auch leben? 
       
       Nur schlecht. Aber wir Jobber, es waren etwa 120 Aktive, glichen das auch
       durch gegenseitige Hilfe aus. Fahrräder und Mopeds reparieren. Jeder konnte
       etwas. Es war Selbsthilfe, aber es war auch politische Arbeit, die die
       eigene Lage zum Ausgangspunkt nahm. Damals fing auch das an, was wir heute
       prekäre Beschäftigung nennen. Leiharbeit war ein Randphänomen, das sich
       ausbreitete.
       
       Wie lange waren Sie Jobber? 
       
       Weit über zehn Jahre. Wir bauten auch bundesweite und europaweite
       Strukturen mit auf.
       
       Wie lernten Sie Ihr Pflegekind kennen? 
       
       Ich hatte auf dem Elbe-Aktiv-Spielplatz eine ABM-Maßnahme, sollte Kindern
       bei den Schularbeiten helfen. Darunter waren Kinder in schwieriger Lage,
       von den 30 hatten fast alle Alkoholiker als Eltern. Ich sah die
       Schularbeiten als zweitranging an und versuchte, den Kindern Neugierde und
       Spaß am Lernen zu vermitteln. Dann kamen die Lehrer und fragten, wo denn
       der sei, der ihre Kinder von Sechs auf Einsen und Zweien bringt. Da wurde
       auf dem Elbe-Aktiv-Spielplatz einer der ersten pädagogischen Mittagstische
       der Stadt gegründet.
       
       Und Ihr Pflegekind? 
       
       Sebastian war auch dort. Der Neunjährige trieb sich nachts herum, schlief
       in der Schule ein, deshalb sollte er in ein Kinderheim. Da entschied ich,
       ihn zu mir zu nehmen. Und zwar als „Erziehungsstelle“. Das hieß, ich bekam
       neben dem Geld für die Versorgung noch ein Honorar. Heute hat Sebastian
       selber zwei Pflegekinder.
       
       Sie fingen wieder in einer Kita an, wurden sogar Leiter. 
       
       Als Alleinerziehender, der ich wurde, suchte ich nach einer Halbtagsstelle,
       damit ich Zeit hatte. Die fand ich in einer Kita.
       
       Und entdeckten Kita-Politik? 
       
       Das lag daran, dass 2003 in Hamburg das Kita-Gutscheinsystem kam, das die
       Kita Landschaft auf den Kopf stellte.
       
       Sie haben es bekämpft? 
       
       Sagen wir, kritisch begleitet. Wir gründeten ein Bündnis der
       Kita-Beschäftigten. Dabei waren auch viele ehemalige Jobber. Unsere Kritik
       richtete sich vor allem gegen Kürzungen, die 2004 die CDU vollzog.
       
       Wie wurden Sie Fachmann? 
       
       Die SPD bat mich, für sie als Experte bei einer Anhörung zum
       Kita-Gutscheinsystem zu sprechen. Dadurch wurde ich bekannt. Das führte
       dazu, dass mich 2009 ein Abgeordneter der Linken anrief. Sie würden so
       etwas wie eine Kita-Kampagne planen und könnten mich brauchen. Ich war dann
       für ein Jahr dort auf einer Projektstelle. Daraus wurden elf.
       
       Wie gefiel es Ihnen, das Rathaus von innen zu erleben? 
       
       Ich war nie Mitglied einer Partei und immer kritisch gegenüber
       Parlamentarismus. Die Jobber-Initiativen arbeiteten in den 80ern zwar auch
       mit den Grünen zusammen, aber wir wahrten Distanz. Ich muss sagen, mein
       Blick heute ist noch kritischer. Das Parlament findet selten Lösungen für
       gesellschaftliche Probleme. Es funktioniert wie ein Closed Shop. Man sitzt
       dort ab Fachhochschule aufwärts zusammen.
       
       Was heißt das? 
       
       Arbeiter und Angestellte sind sehr unterrepräsentiert.
       
       Auch in der Linksfraktion? 
       
       Etwas abgeschwächt, aber das gilt für alle Parteien. Der Parlamentsbetrieb
       ist ein Hamsterrad. Es wird nicht zugehört, wenn andere etwas sagen. Egal
       in welcher Partei, da wird immer reflexhaft reagiert. Es geht nicht um
       Problemlösungen, sondern um Profilierung. Fraktionen sind mehr eine
       Presseabteilung als ein Fachinstrument. Ich bin froh, dass die
       Linksfraktion ein bisschen anders war.
       
       Woher nehmen Sie die Energie für Ihren Einsatz? 
       
       Das liegt ein bisschen an meiner Familientradition. Mein Urgroßvater war
       Abgeordneter für die SPD. Der hat gesagt: Man wird Sozialdemokrat und dann
       bleibt man das, bis man ins Grab geht. Bei uns wurde viel diskutiert. Ich
       kann bei Ungerechtigkeiten nie meine Klappe halten. Damit bringe ich mich
       auch mal in Schwierigkeiten.
       
       Schon Pläne für die Rente? 
       
       Ich bin nicht ganz weg. Ich bleibe „Botschafter der Straßenkinder“ und
       wirke weiter in der Landesarbeitsgemeinschaft Kinder und Jugend mit. Aber
       ich baue auch einen Teich in unserem Schrebergarten.
       
       22 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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