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       # taz.de -- Zweiter Corona-Lockdown in Israel: Mikwe ja, Schwimmbad nein
       
       > Die Infektionszahlen sind drastisch gestiegen, Israel erlebt einen
       > zweiten Lockdown – mit Schlupflöchern, vor allem für Ultraorthodoxe.
       
   IMG Bild: Ultraorthodoxe protestieren am 20. September in Bnei Brak gegen die neuen Corona-Auflagen
       
       Bnei Brak ist nur wenige Autominuten von Tel Aviv entfernt. Doch überquert
       man die Grenze in die ultraorthodox geprägte Stadt, ist es, als würde man
       in eine andere Welt eintauchen. Die Männer in Bnei Brak tragen Schtreimels
       und schwarze Hüte, viele der Frauen Perücken – und mittlerweile tragen die
       meisten von ihnen auch Masken. 
       
       Die Ultraorthodoxen, die sich selbst auch Haredim – Gottesfürchtige –
       nennen, machen etwa 10 Prozent der Bevölkerung Israels aus. Sie haben ihre
       eigene Gerichtsbarkeit und ihr eigenes Schulsystem, häufig ohne weltliche
       Kernfächer wie Mathematik und moderne Sprachen. Bnei Brak gehört wie viele
       der ultraorthodoxen Städte und Stadtteile zu den Hotspots des Coronavirus.
       Das liegt an der höheren Bevölkerungsdichte und an der vorhandenen Armut.
       Teilweise haben sich die Bewohner*innen wohl auch weniger an die gebotene
       soziale Distanz gehalten.
       
       Erst seit einigen Jahren gehen einige Frauen arbeiten, um Geld für den
       Lebensunterhalt zu verdienen. Die allermeisten ultraorthodoxen Männer
       fallen als Ernährer aus, weil sie jeden Tag in die Jeschiwa gehen, um die
       Tora zu studieren. Hinzu kommt, dass die Familien sehr kinderreich sind.
       
       Seit Freitagmittag befindet sich Israel zum zweiten Mal seit Ausbruch des
       Coronavirus im Lockdown. Auch Yenun Pinchas K., der seinen vollen Namen
       nicht in der Zeitung lesen möchte, trägt wie viele Passant*innen auf der
       Straße in Bnei Brak Hut und Maske. Der Haredi hält das für sinnvoll.
       
       Die Zustimmung überrascht, denn der erste Lockdown im März hatte für
       Aufruhr innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaften gesorgt. Dass
       Synagogen und Religionsschulen geschlossen wurden, sahen die
       Strenggläubigen als Angriff auf ihre Gemeinschaft und ihren Lebensstil. Sie
       machten ihre religiösen Parteien dafür verantwortlich. Nun versuchen diese,
       das Vertrauen ihrer Wähler*innen zurückzugewinnen. Mitte September, einige
       Stunden bevor das Parlament den landesweiten zweiten Lockdown absegnete,
       trat der ultraorthodoxe Wohnungsbauminister Jaakov Litzman zurück – aus
       Protest dagegen.
       
       Möglicherweise hat er damit den Druck auf Ministerpräsident Benjamin
       Netanjahu noch erhöht. Denn dass es dieses Mal keinen nennenswerten
       Widerstand aus den ultraorthodoxen Communitys gegen den Lockdown gibt,
       könnte an großzügigen Ausnahmeregelungen für die Strenggläubigen liegen.
       Dieses Mal bleiben die Synagogen geöffnet. Gläubige dürfen in Gruppen von
       10 oder 25 Personen in den Innenräumen beten, je nach lokaler
       Infektionsrate. Das ist großzügig, denn ansonsten gilt allgemein ein
       Maximum von 10 Personen bei Zusammenkünften.
       
       Hedva Yaari macht das wütend. Sie sitzt am Strand in Tel Aviv, in der Hand
       hält die 51-jährige freiberufliche Dozentin ein Schild: „Nein zum
       politischen Lügen-Lockdown.“ Hinter ihr im Sand tanzen junge Menschen in
       Bikinis und Badehosen zu lauter Musik, einige halten Schilder mit ähnlichen
       Slogans in der Hand. Für Yaari ist der Lockdown auf die Ultraorthodoxen
       zugeschnitten: „Wir Säkularen dürfen nicht ins Schwimmbad gehen, aber die
       orthodoxen Frauen dürfen ihr rituelles Bad nehmen, die Mikwe.“
       
       Ihre neben ihr sitzende Schwester ergänzt: „Und warum darf man nicht im
       Meer schwimmen, außer wenn man surft? Es gibt zu Jom Kippur die Tradition,
       dass die Ultraorthodoxen ins Meer gehen und dort ihre Taschen ausleeren.
       Anstatt genau das zu verhindern, hat die Regierung ein Badeverbot für alle
       verhängt.“ Für Yaari und ihre Schwester ist die ganze Lockdownregelung
       voller Widersprüche. Verantwortlich sei Netanjahu, „dieser verdammte
       Kriminelle“, schimpft Yaari. „Die Ultraorthodoxen halten ihn an der
       Kandare. Deswegen die zahlreichen Ausnahmeregelungen für sie. Der Lockdown
       ist eigentlich ein Lockdown für Säkulare.“
       
       An der Kandare hielten die Ultraothodoxen Netanjahu laut Yaari schon Anfang
       September, als der sogenannte Ampelplan des Coronabeauftragten Roni Gamzu
       vom Parlament abgesegnet werden sollte. Der Plan sah vor, rot definierte
       Zonen, die besonders hohe Infektionszahlen aufwiesen, abzuriegeln. Damit
       sollte ein landesweiter Lockdown verhindert werden. Betroffen gewesen wären
       landesweit zehn Städte und Stadtteile, die Mehrzahl von ihnen ultraorthodox
       geprägt.
       
       Die Ultraorthodoxen gingen auf die Barrikaden. Vier haredische
       Bürgermeister kündigten an, sich den Vorschriften des Ampelplans zu
       widersetzen. Netanjahu sorgte dafür, dass er zugunsten einer nächtlichen
       Ausgangssperre zurückgezogen wurde. Gebracht hat sie wenig, die
       Infektionszahlen stiegen weiter. In der letzten Woche lag die Zahl von
       Neuinfektionen fast jeden Tag bei über 5.000, auf Deutschland übertragen
       wären dies täglich mehr als 50.000. Der Coronabeauftragte warnte vor
       monatlich 600 Toten. Die Krankenhäuser hissten die rote Fahne.
       
       ## Netanjahus letzter Halt
       
       Der Haredi Yenun Pinkas K. in Bnei Brak fühlt sich seinerseits
       diskriminiert: „Während alle auf uns schimpfen und uns für die Krise
       verantwortlich machen, haben die Menschen in Tel Aviv in überfüllten Bars
       und Restaurants gefeiert, ohne dass irgendjemand Distanz gewahrt oder
       Masken getragen hätte.“ Er gehört zu der Gruppierung der Sfaradim,
       traditionell wählen diese die ultraorthodoxe Partei Schas.
       
       Von Leuten wie K. hängt Netanjahus politisches Überleben ab, denn
       mittlerweile sind die religiösen Parteien die einzigen verbliebenen
       verlässlichen Koalitionspartner des innenpolitisch bedrängten
       Ministerpräsidenten. Netanjahu erwartet ein Gerichtsverfahren in drei
       Korruptionsfällen, regelmäßig demonstrieren Tausende und fordern seinen
       Rücktritt, die Wirtschaft des Landes liegt am Boden – und nach vermeintlich
       erfolgreicher Bewältigung der ersten Coronawelle sind nun die
       Infektionszahlen dramatisch in die Höhe geschnellt.
       
       Ob K. wegen des zweiten Lockdowns sauer ist auf Netanjahu? „Wirklich
       verantwortlich sind doch die Richter und die Staatsanwaltschaft“, sagt er.
       Wie vielen Haredim fällt es ihm schwer, Netanjahu persönlich verantwortlich
       zu machen.
       
       „Die religiösen Parteien unterstützen Netanjahu“, erklärt Tomer Persico,
       Gastprofessor für jüdische und Israelstudien an der Universität Berkeley.
       „Im Gegenzug erfüllt der Ministerpräsident den Haredim alle finanziellen
       und politischen Wünsche. An diesem grundlegenden Verhältnis wird sich
       nichts ändern.“ Der Riss im Verhältnis zwischen Netanjahu und seinen
       haredischen Unterstützern dürfte sich leicht wieder reparieren lassen.
       
       ## Sport treiben ist erlaubt
       
       Doch der allgemeine Druck auf den Ministerpräsidenten bleibt groß, die Ruhe
       des Lockdowns könnte auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Ohnehin kommt die
       zweite Abriegelung bei Weitem nicht an die allumfassende Stille des ersten
       Lockdowns im März heran.
       
       Zwar dürfen sich Israelis nicht mehr als tausend Meter von ihrem Wohnort
       entfernen, Schulen sind geschlossen, Geschäfte mit Kundenverkehr ebenso.
       Doch die Obst- und Gemüsestände auf dem Carmelmarkt im Zentrum Tel Avivs
       sind geöffnet, wenn es auch weniger wuselig zugeht als noch vor einigen
       Tagen. Busse durchqueren die Stadt, Menschen fahren im Auto zur Arbeit, am
       Himmel ist Flugzeuglärm zu hören. Tel Avivs Prachtstraße ist voller
       Jogger*innen – Sport treiben ist auch über die Tausendmetergrenze hinaus
       erlaubt.
       
       Außerdem gibt es, neben den Schlupflöchern für die Strenggläubigen und
       Sporttreibenden, eine weitere Ausnahmeregelung: Die Teilnahme an
       Demonstrationen ist weiterhin erlaubt. Der juristische Berater der Knesset
       hat entschieden, dass es nicht in der Kompetenz der Regierung liegt, diese
       zu verbieten. Nicht nur Yaari konnte mit ihrer Familie ohne Bußgeld an den
       Strand kommen. Auch Tausende von Anti-Netanjahu-Demonstrant*innen fuhren
       trotz Lockdowns am Sonntagabend nach Jerusalem und forderten Netanjahus
       Rücktritt.
       
       ## Restaurants gehen pleite
       
       Geschlossen bleiben müssen allerdings sämtliche Restaurants und Cafés. Auch
       das von Yonatan Borowicz, dem Betreiber des Restaurants M25 in einer
       Seitenstraße des Carmelmarkts. Der 41-Jährige schiebt mit Schwung ein
       eisernes Tor nach oben und gibt den Blick frei auf sein Restaurant: die
       Stühle sind hochgestellt, zwei Theken stehen leer im Raum.
       
       „Mit einer kompetenteren Regierung hätte das Ganze vermieden werden
       können“, sagt Borowicz. Aber Netanjahu sei ja damit beschäftigt gewesen,
       Steuererleichterungen für sich zu erreichen und Frieden mit Bahrain zu
       schließen. „An sich ist das ja eine gute Sache, aber im Moment interessiert
       uns ein Frieden mit einem Land, mit dem wir nie Krieg hatten, nicht.“
       
       Er legt übriggebliebenen Salat in eine Plastikschale und zuckt mit den
       Achseln: „Aus dem ersten Lockdown haben wir gelernt, dass wir mit keiner
       Kompensation von der Regierung rechnen können.“ Für Borowicz betrug die
       staatliche Unterstützung nicht einmal 10 Prozent dessen, was er ansonsten
       verdient hätte. Und das Geld kam erst Monate später. Für viele
       Restaurantbesitzer war es da zu spät.
       
       Nach Auskunft des Israelischen Restaurantverbandes haben aufgrund des
       ersten Lockdowns etwa tausend Restaurants und Cafés schließen müssen. Man
       rechnet mit Tausenden weiteren, die nun aufgrund des zweiten Lckdowns
       schließen müssen.
       
       ## Keine Entschädigung – und wenn zu spät
       
       Wie die Aktivistin Yaari hätte es der Restaurantbetreiber Borowicz
       vorgezogen, wenn der Lockdown nur für bestimmte Gegenden mit hohen
       Infektionsraten verhängt worden wäre. „Stattdessen wird nun ein ganzes Land
       in den Lockdown geschickt.“ Er legt die Plastikschüssel mit Salat in eine
       Tüte und reicht sie rüber: „Nimm mit, der ist übrig.“
       
       Vor dem Lockdown hat der Israelische Restaurantverband angekündigt, dass
       viele Gaststätten den Regelungen nicht Folge leisten werden, sollte ihnen
       keine Entschädigung garantiert werden. Fragt man den Betreiber des M25, ob
       er überlegt, sein Lokal trotz Lockdowns zu öffnen, antwortet er vorsichtig:
       „Ich denke, die nächsten Wochen werden für uns wie für viele andere
       Restaurants wohl ein Experiment sein. Wir werden abwarten, ob andere
       Geschäftsbesitzer den Regelungen Folge leisten werden“, sagt er und setzt
       hinzu, „und ob Gäste zu ihnen kommen.“
       
       Die Knesset debattiert über eine Verschärfung der Regelungen. Doch ob die
       Bevölkerung dies mitmachen würde, gespalten wie sie ist und mit fehlendem
       Vertrauen in die Regierung, das wird sich zeigen müssen.
       
       23 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Judith Poppe
       
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