URI: 
       # taz.de -- Forscher über „Euthanasie“-Deportationen: „Kontakt zu Angehörigen schützte“
       
       > Vor 80 Jahren verließ der erste „Euthanasie“-Transport Hamburg. Von 6.000
       > vor dort deportierten Menschen ermordete das NS-Regime über 4.700.
       
   IMG Bild: Gedenkstelen für die Euthanasie-Opfer stehen hier erst seit 2018: Psychiatrische Klinik Ochsenzoll
       
       taz: Herr Wunder, was geschah vor 80 Jahren im Krankenhaus
       Hamburg-Langenhorn, der heutigen Psychiatrie-Klinik Ochsenzoll? 
       
       Michael Wunder: Am 23. September 1940 wurden 136 jüdische PatientInnen aus
       dem ganzen Norden zum nahen Güterbahnhof [1][Ochsenzoll] gebracht und zur
       Ermordung in die Stadt Brandenburg deportiert. Das dortige Zuchthaus hatte
       man zu einer der ersten Euthanasie-Anstalten des Deutschen Reichs umgebaut;
       mit Gaskammer, Krematorium und Aschefeld.
       
       Was war das Besondere an diesem Transport? 
       
       Es war der erste von ungefähr 80 Hamburger [2][Euthanasie-Transporten] mit
       über 6.000 PatientInnen, von denen über 4.700 nachweislich ermordet wurden.
       Zugleich war es die erste Deportation Hamburger Juden – und damit der erste
       Holocaust-Transport. Denn man deportierte an diesem Tag ausschließlich
       jüdische PatientInnen. Ochsenzoll war dabei die Sammelstelle für
       PatientInnen aller Anstalten für Menschen mit Behinderung und Psychiatrien
       in Norddeutschland.
       
       Wie reagierte Hamburgs jüdische Gemeinde? 
       
       Der damalige Vorsitzende Max Plaut hat sich um seine Leute bemüht und den
       Abtransport aus Ochsenzoll genau verfolgt. Als er die Behörden fragte,
       wohin man die Menschen gebracht habe, hieß es: ins polnische Chełm bei
       Lublin. Auf Plauts Nachfrage sagte die dortige jüdische Gemeinde, es gebe
       keine Anstalt und es sei niemand aus Hamburg angekommen. Trotzdem mussten
       die Angehörigen noch drei Monate lang „Pflegegelder“ zahlen.
       
       Dabei hatte man die Menschen bereits in Brandenburg ermordet. 
       
       Ja. Noch am Tag des Abtransports schrieb Irmfried Eberl, der Tötungsarzt in
       [3][Brandenburg,] „Langenhorn – J“ in seinen Gaskammer-Kalender. Eberl
       wurde 1942 Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka: Euthanasie und
       Holocaust hängen also nicht nur ideologisch zusammen, sondern auch
       technisch. Das durch die Massenmord-Aktion der Euthanasie errungene
       Know-How der Gaskammern wurde später in Treblinka, Majdanek, Bełżec,
       Sobibór und Birkenau genutzt.
       
       War Ochsenzoll der erste Euthanasie-Transport überhaupt?
       
       Nein. Die Euthanasie hatte kurz nach dem Überfall auf Polen im Oktober 1939
       begonnen und wurde dann sukzessive von Süddeutschland aus in den Norden
       ausgedehnt.
       
       Welche Rolle spielten die Hamburg-Alsterdorfer Anstalten? 
       
       Schon im September 1938 – vor den Novemberpogromen – beschloss
       [4][Alsterdorf] aus eigenem Antrieb, die Juden zu „entfernen“ und in andere
       Anstalten zu bringen. Denn Alsterdorf war zwar eine kirchliche Einrichtung,
       aber stark nationalsozialistisch und antisemitisch ausgerichtet.
       Theologischer Antijudaismus untermauerte dabei noch den Antisemitismus.
       
       Protestierte Hamburgs Politik gegen die Euthanasie? 
       
       Im Gegenteil. Gesundheitssenator Friedrich Ofterdinger hielt kurz vor den
       Deportationen in Ochsenzoll eine Rede. Ihr Tenor: Es werde bald eine
       Selektion nach Binding-Hoche’schen Kriterien geben. Der Jurist Karl Binding
       und der Psychiater Alfred Hoche hatten schon 1920 in ihrer Schrift „Die
       Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens“ die Euthanasie gefordert, die das
       NS-Regime jetzt umsetzte.
       
       Musste das Ochsenzoller Personal an der Selektion mitwirken? 
       
       Nein. Senator Ofterdinger sagte, niemand müsse mitmachen. Darauf, dass man
       das Personal „demokratisch“ einbezogen habe, beriefen sich die Täter später
       auch vor Gericht. Diese manipulative Pseudo-Demokratie war eine Hamburger
       Spezialität. Geweigert hat sich dann nur eine Krankenschwester. Sie wurde
       nicht bestraft, sondern nur in ein anderes Krankenhaus versetzt.
       
       Die Ärzte machten alle mit? 
       
       Ja. Es war eine „Korruption durch Information“. Die Ärzte fühlten sich
       geehrt, weil sie so ehrlich und transparent aufgeklärt wurden. Sie sollten
       ja auch „nur“ die aussichtslosen, unheilbaren Patienten aussuchen.
       
       Blieb es dabei? 
       
       Nein. Mit dem Fortgang des Zweiten Weltkriegs und der steigenden Zahl auch
       psychischer Opfer – etwa der „Bombenverwirrten“ nach dem Hamburger
       [5][„Feuersturm“] 1943 – wies die Behörde immer mehr PatientInnen ein. Die
       Überbelegung wurde so groß, dass die Anstalten selber um Abtransport baten.
       Die Behörde gab dann Kontingentzahlen vor, und die Oberpfleger erstellten
       Listen, die die Ärzte abzeichneten.
       
       Wer stand darauf? 
       
       Hoher Pflegeaufwand und geringe Arbeitsfähigkeit waren Hauptkriterien.
       Daneben wurde geschaut: Hat derjenige Kontakt zu Angehörigen? Das hat
       geschützt. Wenn sich niemand kümmerte, war das ein Auswahlkriterium.
       
       Und warum wurde die offizielle Euthanasie 1941 beendet? 
       
       Weil der öffentliche Widerstand zu groß wurde. Münsters Bischof [6][von
       Galen] griff Hitler wegen der Euthanasie an. Die NS-Frauenschaft
       protestierte, weil Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland
       gekämpft hatten und psychisch krank heimkehrten, ins Gas geschickt wurden.
       Damit war die Euthanasie bzw. T4-Aktion nicht mehr zu halten, und Hitler
       hat sie im August 1941 für beendet erklärt. Da waren bereits 70.000
       PatientInnen ermordet worden.
       
       Das Ende der Euthanasie? 
       
       Nein. Dann begann die „wilde“ beziehungsweise dezentrale Euthanasie, die
       der entfesselte Apparat aus Rationalitätsgründen weiterführte. Denn die
       Mittel wurden knapper, männliche Pflegekräfte zur Front geschickt, es
       herrschte Hunger, die Patientenzahlen stiegen. In dieser Situation wurden
       Gedanken wie „der leidet doch nur noch“ oder „der kann nicht mal Besen
       binden“ zur vorherrschenden Mentalität. An dieser zweiten Mordphase haben
       sich über 100 Einrichtungen beteiligt.
       
       Wie ging sie vonstatten? 
       
       Da die Gaskammern in den Tötungsanstalten – Grafeneck, Bernburg,
       Pirna-Sonnenstein, Brandenburg, Hadamar und Hartheim – geschlossen waren,
       tötete man durch Spritzen und Hunger, etwa in den „Hunger-Häusern“. In
       dieser zweiten Phase starben mindestens weitere 200.000 Menschen.
       
       Wie erging es den Überlebenden nach 1945? 
       
       Sie mussten lange kämpfen: Laut Bundesentschädigungsgesetz wurden weder
       Zwangssterilisierte noch Euthanasie-Überlebende als NS-Opfer anerkannt.
       Erst seit 1980 hatten Zwangssterilisierte Anspruch auf Entschädigung.
       Überlebende der Euthanasie wurden erst später den Opfern der
       Zwangssterilisation gleichgestellt.
       
       Was geschah den Hamburger Tätern nach 1945? 
       
       Nichts. Sozialsenator Oskar Martini, Senatsdirektor Kurt Struve sowie die
       verantwortlichen Ärzte wurden schnell entnazifiziert und Verfahren gegen
       sie früher oder später eingestellt.
       
       22 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Hamburgs-Psychiatrie-arbeitet-NS-Zeit-auf/!5499268
   DIR [2] https://www.gedenkort-t4.eu/de/wissen/was-heisst-euthanasie
   DIR [3] https://www.brandenburg-euthanasie-sbg.de/
   DIR [4] /Kirche-entfernt-diffamierendes-Bild/!5667080
   DIR [5] https://www.kirche-hamburg.de/nachrichten/details/hamburg-erinnert-an-den-feuersturm.html
   DIR [6] /Archiv-Suche/!535668&s=Bischof+von+galen+m%C3%BCnster&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
   DIR Euthanasie
   DIR NS-Opfer
   DIR NS-Ideologie
   DIR Behinderte
   DIR Menschen mit Behinderung
   DIR Zwangssterilisation
   DIR Leben mit Behinderung
   DIR Leben mit Behinderung
   DIR Euthanasie
   DIR Bremen
   DIR Dokumentarfilm
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Euthanasie
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Euthanasie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Euthanasie in der NS-Zeit in Hamburg: Töten statt heilen
       
       Da es kein Euthanasiegesetz gab, agierten NS-ÄrztInnen im rechtsfreien
       Raum. In gleich zwei Hamburger Kliniken töteten sie 200 behinderte Kinder.
       
   DIR Buchautor über Euthanasie-Überlebende: „So eine Diagnose sagt nichts aus“
       
       Die Bremerin Paula Kleine überlebte die Euthanasie und die Psychiatrie. Ein
       Buch über ihr Leben erzählt zugleich die Geschichte der Behindertenhilfe.
       
   DIR Dokufilm über Roma im Holocaust: Leben spiegeln
       
       Der Dokufilm „Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit“ nähert
       sich dem Holocaust aus der Perspektive von Sinti und Roma.
       
   DIR Corona-Kritik mit NS-Begriff: Der „Volkskörper“ ist zurück
       
       Der Hamburger Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Walter Plassmann greift
       mit rechter Wortwahl die Coronamaßnahmen in Deutschland an.
       
   DIR 75 Jahre Auschwitz: Tötung nach Strichliste
       
       Am Holocaust-Gedenktag wird in Berlin auch der Euthanasie-Opfer gedacht.
       Der Bundesbeauftragte warnt vor aktueller Behindertenfeindlichkeit.
       
   DIR Der Hausbesuch: Eine Kämpferin für die Seele
       
       Unter den Nazis wurde Dorothea Buck zwangssterilisiert. Seitdem kämpft sie
       für eine menschlichere Psychiatrie – auch noch mit 101.
       
   DIR Historiker über Euthanasie-Verbrecher: „Die Verfahren wurden eingestellt“
       
       Christof Beyer erforschte personelle Kontinuitäten in den psychiatrischen
       Anstalten nach 1945. Das Ergebnis: Viele der Euthanasie-Verbrecher*innen
       machten Karriere.