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       # taz.de -- Galeristin über Künstler*innen in Beirut: „Viele haben keine Wohnung mehr“
       
       > Andrée Sfeir-Semler betreibt Galerien in Hamburg und Beirut. Nach der
       > Explosion hat sie eine Spendenaktion für Kunstschaffende in Beirut
       > organisiert.
       
   IMG Bild: Die Galerie Sfeier-Semler in Beirut: Zum Glück gab es zum Zeitpunkt der Explosion keine Ausstellung
       
       taz: Frau Sfeir-Semler, steht Ihre Galerie-Filiale nach der Explosion in
       Beirut noch? 
       
       Andrée Sfeir-Semler: Nur die Außenmauern. Das Innere der ehemaligen
       Fabrikhalle, 900 Meter vom Explosionsort entfernt, ist verwüstet. Die
       Fensterrahmen sind verzogen, Innenwände umgefallen, Klimaanlage, Lampen,
       Computer kaputt. Zufällig hatten wir gerade keine Ausstellung, sodass keine
       Kunstwerke zerstört wurden. Auch unsere Mitarbeiter blieben körperlich
       unversehrt. Aber eine Angestellte erlitt einen Schock und kann vorerst
       nicht arbeiten.
       
       Sind weitere Kunstorte zerstört? 
       
       Ja. Das Sursock-Museum – das einzige Beiruter Museum für moderne Kunst –
       ist stark beschädigt. Auch die Beiruter „Zweigstelle“ der Münchner Galerie
       Tanit und die Galerie Marfa’ im Hafen sind demoliert.
       
       Wie geht es den Künstlern? 
       
       Viele wohnten direkt im Künstler- und Ausgehviertel Gemmayzeh, das – neben
       Beirut-Downtown – am stärksten von der Hauptdruckwelle betroffen war.
       Deshalb haben viele von ihnen keine Wohnungen mehr – und keinen Arbeitsort,
       weil die meisten keine separaten Ateliers haben, sondern zu Hause arbeiten.
       
       Wer hilft ihnen? 
       
       Das habe ich mich auch gefragt und angefangen zu recherchieren. Auch, weil
       Hunderte Leute anfragten, wohin sie spenden könnten. Als ich sah, dass das
       libanesische Rote Kreuz sehr viele Spenden bekam, hielt ich es als
       Galeristin für sinnvoll, Geld für Kunstschaffende zu organisieren. Ich bin
       dann auf den „Arab Fund for Art and Culture“ (AFAC) gestoßen, den ich für
       sehr seriös halte. Ich kenne die Leute, und einer meiner Künstler, Akram
       Zaatari, sitzt im Vorstand.
       
       Was tut der AFAC genau? 
       
       Es ist ein 2007 gegründeter Fonds, der Kunstschaffende aus dem gesamten
       arabischen Raum fördert. Wir haben die Organisatoren gebeten, für Beirut
       einen zusätzlichen Notfallfonds einzurichten, den Lebanon Solidarity Fund.
       Damit alles transparent verläuft, ist vereinbart, dass nicht nur die
       eingehenden Spenden auf einer Website veröffentlicht werden, sondern auch,
       wer wie viel Geld bekommt.
       
       Zynischerweise gab es kürzlich auch die 100-Jahr-Feier der Gründung des
       Libanon. 
       
       Ja. Gut daran war aber, dass Macron nach Beirut kam. Er versucht, massiv
       auf die Bildung einer Regierung hinzuwirken, die alle Fraktionen
       akzeptieren. Denn die Finanzkrise kann nur mithilfe des Internationalen
       Währungsfonds überwunden werden. Und der gibt kein Geld, solange Reformen
       fehlen und die Korruption blüht.
       
       Kann der neue Ministerpräsident Adib das lösen? 
       
       Ich kenne ihn gut und halte ihn für intelligent, kultiviert und nicht
       korrumpierbar. Ich weiß, dass ihn viele ablehnen, weil sie glauben, dass er
       die Politik seines Vorgängers Diab fortsetzen wird. Aber das denke ich
       nicht. Diab war Hisbollah-nah und Adib ist das nicht. Trotzdem hat ihn die
       Hisbollah-Fraktion akzeptiert. Das war ein wichtiger Schritt.
       
       Aber Korruption verschwindet nicht von heute auf morgen. 
       
       Nein. Wir müssen einen Schritt nach dem anderen tun. Die jungen Leute auf
       der Straße, die jetzt protestieren, haben noch keine Partei gegründet. Mit
       wem soll Adib also reden? Und wenn er klug genug ist, einige der Protestler
       in sein Kabinett zu berufen, hat er eine Chance.
       
       Aber ist Marcons Einmischung nicht postkoloniales Gebaren? 
       
       Mir egal, ob es postkolonial ist! Ohne ihn hätten wir den neuen
       Ministerpräsidenten nicht. Macron ist der einzige internationale Politiker,
       der Druck ausübt, damit es Reformen gibt. Mich interessiert nur eins: dass
       das Land überlebt. Das geht nicht, wenn man immer Nein sagt. Die
       Palästinenser haben sich jahrzehntelang geweigert zu verhandeln. Was ist
       ihnen geblieben? Sie werden annektiert, bevor sie piep sagen können.
       
       Sie plädieren für eine pragmatische Lösung. 
       
       Ja. Die Hisbollah hat eine Million Anhänger. Die werden nicht einfach
       verschwinden, also muss man kooperieren und versuchen, das Land zu einen.
       Und es eilt. Anfang September sind in drei Tagen 10.000
       Auswanderungsanträge in der französischen Botschaft eingegangen.
       
       Wer wandert aus? 
       
       Wer es sich leisten kann. Und das sind in der Regel die gut Ausgebildeten
       aus besseren Milieus, die im Libanon dringend gebraucht werden.
       
       Und wie reagiert Ihre Galerie künstlerisch auf die Explosion? 
       
       Wir haben sofort umgeplant und zeigen in Hamburg eine Ausstellung mit
       Skripten und Audio-Texten der „Arabischen Apokalypse“, die Etel Adnan 1980
       nach dem libanesischen Bürgerkrieg schrieb. Dazu präsentieren wir eine
       Video-Installation von Walid Raad, die zur Zeit großer
       Restaurierungsarbeiten in Beirut entstand und einstürzende Gebäude zeigt.
       Sie ist von 2018 und aus heutiger Sicht beklemmend visionär.
       
       Arbeiten Sie auch in Beirut weiter? 
       
       Natürlich! Wir werden, wie geplant, demnächst den Installationskünstler
       Marwan Rechmaoui zeigen. Er hat sein Konzept umgeworfen und komponiert
       seine Arbeiten jetzt aus den Trümmern in der Galerie. Und sobald die
       Coronazahlen in Beirut zurückgehen, werde ich hinfliegen und ihm helfen.
       
       9 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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