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       # taz.de -- Deutsch-deutsche „Kranke Geschäfte“: Unmenschen, hüben wie drüben
       
       > Ein Film von Urs Egger erinnert an ein dunkles Pharma-Kapitel
       > deutsch-deutscher Geschichte: „Kranke Geschäfte“ läuft Montagabend im
       > ZDF.
       
   IMG Bild: „Kranke Geschäfte“ mit kranker Tochter in der DDR
       
       Nein, dieser Armin Glaser (Florian Stetter) ist nicht die
       liebenswert-tapsige Version eines Stasi-Agenten, wie man ihn seit heute
       wieder in der dritten Staffel der Serie [1][„Deutschland 83/86/89“] – auf
       Amazon Prime – beschmunzeln darf, die die ganze Absurdität des selbst
       ernannten Arbeiter- und Bauernstaates lustvoll ausschlachtet.
       
       Nein, da ist kein Hauch von Komik im Spiel, wenn er, an der Wand hinter
       seinem Schreibtisch ein Porträt des Tscheka-Gründers Felix Dzierżyński, den
       vor ihm sitzenden Musiker fragt: „Wer wollte Lieder von Biermann hören?“
       Wenn er seinen Stuhl nimmt und näher an den Befragten heranrückt: „Und Sie
       können das, ja? Die Texte. Die Akkorde.“
       
       Wenn er anfängt, in die Hände zu klatschen: „Respekt, Herr Strelsky. Ich
       muss Ihnen mitteilen, dass von unserer Seite, also vom Untersuchungsorgan,
       ein Verfahren gegen Sie eingeleitet wird.“ Wenn er auf den verschüchterten
       Einwand des Beklatschten – „Aber ich hab nur …“ – sich erhebt, seine Stimme
       hebt: „Ich möchte vorneweg noch mal betonen, dass wir dringend an
       Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit interessiert sind. Alles muss genannt
       werden. Nur dann können wir Ihr Leben und das Ihrer Familie wieder ins Lot
       bringen.“ Die Bedrohung der Familie hat der hauptamtliche Mitarbeiter
       sicher ebenso auf der Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit
       gelernt wie den gleich anschließend angebotenen Kaffee: „Wir sind doch
       keine Unmenschen.“
       
       Sollte er diesen Satz tatsächlich ernst gemeint haben, einiges spricht
       dafür, ist er doch ein „Zweihundertprozentiger“ – so wird er bald eines
       Besseren belehrt. Durch den Zufall, dass ausgerechnet seine Tochter an
       Multipler Sklerose erkrankt. Der Zufall ist natürlich kein Zufall. Sondern
       ein dramaturgischer Kniff (von Drehbuchautor Johannes Betz). Der Zuschauer
       ist damit ganz nah dran an dem Instrumentarium, mit dem der
       DDR-Unrechtsstaat seine Bevölkerung gegängelt hat. Und der Protagonist der
       Filmhandlung verfügt damit über das Instrumentarium, um das Unrecht, dass
       seiner Tochter … nicht wiederfährt, sondern angetan wird, und nicht nur
       ihr, zu ermitteln.
       
       ## Devisen für kranke Bürger
       
       Das Unrecht – zwei in Texttafeln eingeblendete Sätze am Ende des Films
       fassen es in Zahlen zusammen: „Von 1964 bis 1990 fanden in der DDR über 900
       Medikamenten-Studien an mindestens 50.000 Bürgern statt. Die DDR erhielt
       für die Vermittlung ihrer kranken Bürger Devisen in Millionenhöhe.“
       
       Denn das Unrecht wurde angetan mit dem Wissen und im Auftrag westlicher
       Pharmaunternehmen. „13 Prozent sind tot“, erklärt ein Pharma-Manager
       (Matthias Matschke) in Nürnberg seinem Chef (Udo Samel), auf dessen Gesicht
       man einen Augenblick lang echte Betroffenheit ablesen zu können meint:
       „Katastrophe.“ Nur einen Augenblick lang: „Wir können neun Millionen an
       Entwicklung und Forschung erst mal in den Wind schießen.“
       
       Sein Zynismus ist so herausragend gut gespielt wie der müde Sarkasmus der
       die Studie durchführenden Ärztin (Corinna Harfouch): „Wir sind doch die
       Guten.“ Und des Genossen Staatssekretär (Jörg Schüttauf): „Wo geht denn das
       ganze Geld hin? Gibt’s vielleicht irgendwelche Wasserleitungen in Wandlitz,
       die undicht sind?“ Es ist das Jahr 1988 und sie ahnen, dass einem Staat,
       der seine Bürger zur Ware macht – wie es der aus gegebenem Anlass bald
       nicht mehr so linientreue, von Freunden und Kollegen (Alexander Beyer und
       Stephan Grossmann) allein gelassene Stasi-Offizier auf den Punkt bringt –
       keine Zukunft beschieden ist.
       
       Und so wie der Film (der letzte des im Januar verstorbenen Regisseurs Urs
       Egger) das auf den Punkt bringt, lässt er keinen Raum für differenzierte
       Betrachtungen – wie noch die erste Staffel der Serie „Weissensee“. [2][Für
       Diskussionen, ob man die DDR nun wirklich einen „Unrechtsstaat“ nennen
       müsse]. Für das Triumphieren von Bundespolitikern, deren Teilnahme am
       DDR-Unrecht bereits im Vorspann markiert wird – mit einem roten Kreis um
       den Handschlag Erich Honeckers und Helmut Kohls, des Kanzlers der Einheit.
       
       Deren 30. Jubiläum ausgerechnet mit einem so defätistischen Filmwerk – mit
       dem passenden Titel „Kranke Geschäfte“ – zu zelebrieren … Wie mag das etwa
       jenen (Politikern) gefallen, denen ein kritisches Satire-Video zum Thema
       Polizeigewalt Grund genug ist, den Öffentlich-Rechtlichen eine Erhöhung der
       Rundfunkgebühren zu verweigern?
       
       28 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
       ## TAGS
       
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