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       # taz.de -- Petition gegen „Catcalling“: Raus aus der gesetzlichen Grauzone
       
       > Hinterherpfeifen, Sprüche, Machtdemonstration: Eine Petition will einen
       > eigenen Straftatbestand für so genanntes Catcalling erwirken. Bringt das
       > was?
       
   IMG Bild: Mit Kreide wehren sich Frauen gegen Catcalling – in New York und inzwischen weltweit
       
       „Wie viel?“, fragte mich einer der beiden Männer. Mein Freund und ich saßen
       auf einer kleinen Mauer in der Pforzheimer Innenstadt und warteten auf den
       Bus. Es war heiß, vermutlich Juli oder August. Nach unserem Freibadbesuch
       war mein Bikini noch nicht vollständig getrocknet und hatte nasse Flecken
       auf meinem Top hinterlassen. Für die zwei Männer in der Innenstadt schien
       das Anlass genug zu sein, um auf meine Brüste zu starren. 
       
       Auf die Frage des einen erwiderte ich nur einen irritierten Blick. „Wie
       viel, dass ich sie ficken darf?“, schob er nach. Die Frage war wohlgemerkt
       an meinen Freund gerichtet, nicht an mich. Als von uns beiden weiterhin nur
       Schweigen zu hören war, wandten sie sich lachen ab. 
       
       Gut 13 Jahre ist das nun her, ich war damals 16. Den Begriff „Catcalling“
       kannte ich zu der Zeit zwar noch nicht, doch es ist die Erfahrung damit, an
       die ich mich heute noch erinnern kann. 
       
       Eine deutsche Entsprechung für den Begriff [1][„Catcalling“] gibt es nicht,
       man könnte „verbale sexuelle Belästigung“ sagen. Hinterherpfeifen, Sprüche
       wie „Hey Sexy“ oder „Komm mal rüber, Süße“, eine „Einladung“, ins Auto
       einzusteigen, oder Kussgeräusche – all das sind Formen von Catcalling. Und
       für viele, hauptsächlich Frauen, sind sie Teil des Alltags am Arbeitsplatz,
       auf der Straße und an anderen öffentlichen Orten. Laut [2][einer Studie des
       Bundesfamilienministeriums] haben 44 Prozent der befragten Frauen schon
       einmal sexistische Übergriffe in Deutschland erlebt. Die Hälfte davon hat
       verbal stattgefunden. In anderen Studien liegt die Zahl der Betroffenen
       noch deutlich höher, [3][bis zu 85 Prozent].
       
       Obwohl durch [4][mehrere Untersuchungen gesichert ist, dass Catcalling
       negative Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen hat], ist es kein
       eigener Strafbestand in Deutschland. Sexuelle Übergriffe sind zwar nach
       Artikel 177 StGB verboten, doch für diesen Strafbestand muss es Berührungen
       gegeben haben. Sexuelle Zudringlichkeit fängt allerdings schon vor der
       Berührung an. „Verbale Beleidigungen“ sind nach Artikel 185 zwar auch
       verboten, doch letztlich schwer zu ahnden und der Sexismus-Aspekt wird
       dabei nicht berücksichtigt. Catcalling bleibt also in einer gesetzlichen
       Grauzone. Die 20-jährige Studentin Antonia Quell möchte das nun ändern und
       hat deswegen [5][die Petition „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar
       sein.“] gestartet.
       
       Quell hat die Petition aus persönlicher Betroffenheit heraus gestartet. Sie
       sei selbst schon häufig von Catcalling betroffen gewesen. „Ich bin einfach
       jedes Mal schockiert, was sich einige Menschen in unserer Gesellschaft so
       leisten, und wollte dagegen etwas unternehmen“, sagt sie gegenüber der taz.
       Und damit ist sie nicht allein: Innerhalb von einem Monat haben über 50.000
       Menschen die Petition unterschrieben. Diese möchte Quell nun
       Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) übergeben und beim Bundestag
       einreichen, damit sich der Petitionsausschuss damit auseinandersetzen muss.
       Ein erster Schritt auf einem möglichen Weg zur Gesetzesänderung.
       
       ## Die hohe Dunkelziffer
       
       Es ist April 2020, die Coronapandemie hat ihren bisherigen Höhepunkt
       erreicht. Beim Spazierengehen am Landwehrkanal in Berlin-Neukölln begegne
       ich einem jungen Mann auf einem Fahrrad, der neben mir zum Stehen kommt und
       fragt: „Hey Süße, Bock eine Runde auf meinem Gepäckträger mitzufahren?“ Ich
       lehne dankend ab. Er steigt wieder auf seinen Sattel, fährt weiter und ruft
       mir zu: „War ’n Witz, bist mir eh zu fett.“ Mein Entsetzen und meine
       Sprachlosigkeit der Jugend habe ich mittlerweile verloren, ignoriere solche
       Sprüche bewusst oder versuche schlagfertig zu reagieren. Nervig und
       herabwürdigend bleibt Catcalling trotz allem. Anzeige erstatten würde ich
       vermutlich trotzdem nur in Ausnahmefällen.
       
       Dass es vielen Betroffenen so geht, zeigen Zahlen aus Ländern, in denen
       Catcalling bereits ein eigener Strafbestand ist, wie in Frankreich,
       Belgien, den Niederlanden, Portugal oder den Philippinen. [6][Seit 2018
       werden in Frankreich] Menschen mit einem Bußgeld von bis zu 750 Euro
       belegt. Wenn die Betroffene unter 15 Jahre alt ist, können es bis 1.500
       Euro sein. Laut der für Gleichstellung zuständigen Staatssekretärin Marlène
       Schiappa wurden im ersten Jahr rund 700 Bußgeldzahlungen fällig. Doch die
       Dunkelziffer der Betroffenen wird weitaus höher liegen.
       
       Noch weniger Anzeigen gab es in Belgien, wo sexistische Beleidigungen seit
       2014 mit Bußgeldern und Strafbefehlen belangt werden. In den ersten vier
       Jahren gab es lediglich 25 Anzeigen und nur eine einzige Verurteilung. In
       diesem Fall hatte ein junger Mann im Juni 2016 eine Polizistin als
       „dreckige Hure“ beschimpft und ihr nahegelegt, sich einen für eine Frau
       passenden Job zu suchen. Er wurde zur Zahlung eines Bußgeldes von 3.000
       Euro verurteilt. Dass es zu diesem Urteil kam, liegt wohl vor allem daran,
       dass mehrere Polizeibeamte Zeugen des Vorfalls waren. Doch nur in den
       seltensten Fällen steht die Polizei gerade daneben, wenn man Catcalling
       erfährt.
       
       ## Bewusstsein der Gesellschaft schärfen
       
       Die Fälle aus Deutschlands Nachbarländern zeigen, dass die Einführung eines
       eigenen Strafbestands nicht das ultimative Mittel gegen Catcalling sind.
       Denn meistens handelt es sich um flüchtige Alltagsbegegnungen – und
       juristisch zu beweisen, dass Hinterherpfeifen eine sexistische Komponente
       hat, ist mitunter schwer. Einfacher sieht es da bei Beleidigungen aus, die
       einen konkreten sexistischen Bezug haben, doch auch hier braucht es Beweise
       oder Zeug:innen zur Verurteilung. Und obwohl es gesellschaftlich klar ist,
       dass Catcalling keine Komplimente sind, ist es juristisch nicht so einfach
       zu definieren.
       
       Zudem fordert eine Anzeige emotionale und zeitliche Ressourcen der
       Betroffenen. Wie schwer es in Deutschland wäre, Catcalling zu bestrafen,
       hängt auch von der Form des Gesetzes ab.
       
       Quell sieht die Problematik und verweist auf Nachfrage auf andere
       sexualisierte Gewalttaten: „Bei Vergewaltigungen ist die Verurteilungsrate
       auch gering, doch diese gewaltvolle Übergriffsform sollte natürlich
       trotzdem strafbar sein“, sagt sie. Für die Studentin soll die Einführung
       des neuen Strafbestandes auch ein Zeichen gegen Victim Blaiming sein. „Die
       Tatsache, dass man eine gesetzliche Absicherung hat, ist für die
       Betroffenen emotional wichtig. Denn wenn ein Verhalten illegal ist, wird
       den Opfern versichert, dass es nicht ihre Schuld ist, was sie erleben, egal
       wie sie aussehen und was sie anhaben“, sagt sie.
       
       Für Quell geht es auch darum, das Bewusstsein der Gesellschaft für
       Catcalling zu schärfen. Sie ist nicht die Erste, die das versucht. Im Jahr
       2014 ging das Video „10 Hours of Walking in NYC as a Woman“ online. Darin
       zu sehen ist, wie die Schauspielerin Shoshana Roberts in verschiedenen
       Bezirken von New York, ausgestattet mit einer versteckten Kamera, spazieren
       geht. [7][In dem zweiminütigen Ausschnitt bei Youtube] wird von 108
       Zwischenfällen berichtet. Diese reichen von einem einfachen „Hallo“ bis hin
       zu minutenlangen Verfolgungen und sexistischen Sprüchen. Das Video wurde
       seitdem 49 Millionen Mal gestreamt und löste eine Debatte über die
       Sicherheit von Frauen auf der Straße aus. Gleiches passierte, nachdem ein
       paar Jahre später eine 20-jährige Studentin aus Amsterdam [8][Fotos von
       ihren Catcallern bei Instagram postete].
       
       Diese Aktionen haben jedoch nicht nur eine Debatte angeregt, sondern auch
       Widerstand mit sich gebracht. Denn in den Köpfen vieler wird Catcalling
       noch als (missglückter) Flirtversuch gelabelt. Ähnlich abwehrende
       Reaktionen sind auch bei Quells Petition zu lesen: „Freu dich doch über die
       Komplimente“ oder „Wenn es dir nicht gefällt, dann ignorier die Sprüche
       doch einfach“, kommentieren nicht wenige.
       
       Die Einführung eines eigenen Strafbestands könnte im Idealfall dazu führen,
       dass die Gesellschaft in Catcalling keine Komplimente mehr sieht, sondern
       übergriffige Machtdemonstration. Und ob die Einführung von Bußgeldern auch
       eine abschreckende Wirkung auf andere mit sich bringt, müssten
       Langzeitstudien aus den besagten Ländern zeigen. Doch selbst wenn nur ein
       Bruchteil der Betroffenen bereit ist, Anzeige zu erstatten, würde eine
       Gesetzesänderung doch wenigstens eine wichtige Symbolkraft vorausgehen.
       Nämlich die, dass Sexismus auf der Straße keinen Platz hat.
       
       30 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Urteil-wegen-sexueller-Belaestigung/!5539115/
   DIR [2] https://www.bmfsfj.de/blob/141246/f8b55ee9dae35a2e638acb530f89dfe0/sexismus-im-alltag-pilotstudie-data.pdf
   DIR [3] https://www.ihollaback.org/cornell-international-survey-on-street-harassment/
   DIR [4] https://pursuit.unimelb.edu.au/articles/sexual-objectification-harms-women
   DIR [5] https://www.openpetition.de/petition/online/es-ist-2020-catcalling-sollte-strafbar-sein
   DIR [6] /Urteil-wegen-sexueller-Belaestigung/!5539115
   DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=b1XGPvbWn0A
   DIR [8] https://www.instagram.com/dearcatcallers/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
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