URI: 
       # taz.de -- Neutralitätsgesetz in Berlin: Radikal für Pluralität
       
       > Die Debatte über das Kopftuch bei Lehrerinnen ist befremdlich. Viel
       > wichtiger wäre eine Diskussion über Teilhabechancen.
       
   IMG Bild: Symbol eines partriarchalen Systems? Frauen mit Kopftuch in Kreuzberg
       
       Das Kopftuch ist mir fremd. Als Kind einer alevitischen Familie mit Wurzeln
       in der Türkei war das Kopftuch nie wirklich ein Teil meiner Familie. Nur
       von meiner Oma kannte ich das Kopftuch, das im hohen Alter eher das
       schüttere Haar verdecken sollte und vielleicht ein wenig der dörflichen
       Tradition geschuldet war. Mehr Accessoire als eine gottgegebene Pflicht.
       
       Das Alevitentum ist für den einen die liberale Form des Islam, für den
       anderen eine völlig eigenständige Religion und für so Gottlose wie mich
       eher eine Lebensphilosophie. Ein Dorn im Auge eines Staates, für den es nur
       eine wahre Religion, den Islam, gibt und der religiöse Assimilation als
       Staatsziel praktiziert. Als Alevite entwickelt man eine Distanz zu Symbolen
       des Islam. Das Kopftuch ist so ein Symbol.
       
       Für mich ist das Kopftuch kein Symbol der Emanzipation. Es ist ein Symbol
       eines patriarchalen Systems. Das ist mein subjektives Empfinden. Eines
       Systems, in der Frauen sich vor den Blicken von Männern schützen müssen.
       So, als wären sie Freiwild. So, als wären Männer triebgesteuerte Monster.
       In einer aufgeklärten Gesellschaft mit einem starken Rechtsstaat ist das
       kaum nachvollziehbar.
       
       Deshalb kann ich das mulmige Bauchgefühl gegen das Kopftuch nachvollziehen.
       Gerade, wenn es um die Repräsentanten unseres Staates in Justiz, Polizei
       und Schule geht, will man nicht an der Neutralität zweifeln müssen. Berlin
       hat deshalb [1][vor 15 Jahren das Neutralitätsgesetz] beschlossen. Einige
       mögen heute betonen, es ginge ja nicht nur um das Kopftuch, aber der
       damalige Innensenator Erhard Körting (SPD) erkennt das Gesetz selbst als
       „Lex Kopftuch“ an.
       
       Körting selbst vollzog in den letzten Jahren aber auch einen Sinneswandel
       zur Sinnhaftigkeit des Gesetzes. Er frage sich, sagte Körting in einem
       Interview 2015 mit dem Tagesspiegel, „ob das Gesetz nicht das Gegenteil von
       dem bewirkt, was wir uns erhofft hatten. Dass es nämlich nicht die
       Emanzipation von muslimischen Mädchen und Frauen fördert, sondern eher
       behindert.“
       
       Körting sprach damit ein Kernversprechen der Sozialdemokratie an. Es ging
       und geht der Sozialdemokratie immer um die Emanzipation von Menschen. Mit
       der Industrialisierung ging es um die Emanzipation der Arbeiter. Dann
       rückte in der Willy-Brandt-Ära das katholische Landmädel in den Fokus. Und
       warum nicht heute die [2][Emanzipation der muslimischen Frauen]? Diese
       bedeutende Aufgabe der Sozialdemokratie wiegt mehr als irgendein
       Bauchgefühl.
       
       ## Treppen für den sozialen Aufstieg bauen
       
       Dabei geht es nicht um einen paternalistischen Blick auf Muslime und die
       glorreiche Befreiung der vermeintlich unterdrückten Frau. Das sollte sich
       niemand anmaßen. Es geht um das Bauen von Treppen, die jedem den sozialen
       Aufstieg ermöglichen sollten.
       
       In den letzten Jahren habe ich gelernt, dass die Motive von Frauen für das
       Kopftuch vielfältig sind. So vielfältig wie die Frauen selbst. Emanzipiert,
       feministisch und kämpferisch geht auch mit Kopftuch. Ja, es gibt auch die
       politisch Motivierten, die starke Verbindungen in islamistische Verbände
       pflegen und denen es um politische Geländegewinne geht. Aber es geht auch
       um junge Frauen, die das Kopftuch als Muss für ihre Religion ansehen und in
       Sachen Feminismus manch einer Frau ohne Kopftuch Jahrzehnte voraus sein
       können.
       
       Was also wiegt mehr: die Angst vor den politisch Motivierten oder die
       Freiheit der Selbstbestimmten? Meine Entscheidung fällt mit Blick auf die
       Aufgabe der Sozialdemokratie eindeutig für die Freiheit aus. Zudem lassen
       Urteile unserer höchsten Gerichte wenig Interpretationen zu: Das
       Neutralitätsgesetz ist in der aktuellen Form nicht haltbar. Gerade im
       Bereich der Bildung. Bei Polizei und Justiz mach ich weiterhin Fragezeichen
       und erkenne die besondere Bedeutung staatlicher Neutralität auch im
       Auftritt nach außen an. Aber in der Bildung bedarf es einer Neujustierung,
       die trotzdem den Gedanken der Neutralität festhalten kann.
       
       Die Berliner SPD hat lange am Gesetz festgehalten. Denn der Kerngedanke ist
       wichtig: Jeder Mensch muss sicher sein können, dass er oder sie es mit
       einem Staat zu tun hat, der neutral die Belange aller Menschen ernst nimmt.
       Uns ist aber aus dem Blick geraten, dass Aufstiegs- und Teilhabechancen das
       A und O sozialdemokratischer Politik sind. Es war bequemer, ein pauschales
       Verbot auszusprechen, als einen komplizierten Aushandlungsprozess sinnvoll
       zu gestalten. Deshalb sollten wir jetzt das Gesetz reformieren.
       
       ## Ein Mechanismus für den Konfliktfall
       
       Anstelle eines pauschalen Verbotes religiös oder weltanschaulich geprägter
       Kleidungsstücke – wie es das Gesetz auch für Lehrkräfte in den öffentlichen
       Schulen formuliert – bedarf es eines Mechanismus, der in einem konkreten
       Konfliktfall greift. Schulen mit Neutralitätsproblemen sollten sich,
       genauso wie beschuldigte Lehrkräfte, zur Klärung an eine Landesstelle
       wenden können. Wieso nicht dafür die Kompetenzen des
       [3][Antidiskriminierungsbeauftragten an Schulen in Berlin] erweitern?
       Nebenbei hätten wir das dringend notwendige Upgrade des
       Antidiskriminierungsbeauftragten, das nach der zweiten Kündigung in kurzer
       Zeit geboten scheint. Das wäre eine passende Ergänzung für unsere
       Einwanderungsgesellschaft.
       
       Was gar nicht geht, ist das symbolische Geplänkel, das der grüne
       Justizsenator Dirk Behrendt auf dem Rücken der Betroffenen führt. Er
       prescht einsam in seinem Ressort vor, ohne auf die Folgen für die
       Betroffenen zu achten, aber auch ohne das strategische Zeitfenster für
       Änderungen sinnvoll zu nutzen. Ich weiß nicht, ob es der simple Blick auf
       Wählerstimmen ist oder einfach die Lust am Raufen. Es braucht jetzt einen
       Justizsenator, der die Debatte in konstruktive Bahnen lenkt und nicht für
       machtgetriebene Kalkulationen missbraucht.
       
       Unsere Gesellschaft lernt langsam, mit ihrer Einwanderungsgeschichte
       klarzukommen. Entspannung ist eine wichtige Eigenschaft, die wir dabei
       täglich trainieren müssen. Entspannung bei der Frage religiöser Symbole bei
       gleichzeitiger Wahrung der staatlichen Neutralität wäre ein enormer
       Fortschritt. Manchmal ist der Fortschritt eine Schnecke – aber auch die
       sollte nach 15 Jahren in der Realität ankommen. Und wie schön wäre es, wenn
       auch Menschen wie ich und meine Kinder ihr Fremdheitsgefühl verlernen und
       die volle Pluralität der Gesellschaft vom Klassenzimmer an erfahren.
       
       Aziz Bozkurt ist Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der
       SPD.
       
       15 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Berliner-Kopftuch-Streit/!5710468&s=neutralit%C3%A4tsgesetz/
   DIR [2] /Psychologe-ueber-maennliche-Sozialisierung/!5610695&s=emanzipation+muslime/
   DIR [3] /Antidiskriminierungsbeauftragter-geht/!5708061&s=neutralit%C3%A4tsgesetz/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aziz Bozkurt
       
       ## TAGS
       
   DIR Gastkommentar
   DIR Kopftuch
   DIR Lehrkräfte
   DIR Neutralitätsgesetz
   DIR Neutralitätsgesetz
   DIR Kopftuch
   DIR Wochenkommentar
   DIR Schwerpunkt Seyran Ateş
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wissenschaftlerin zum Kopftuchverbot: „Ein Klima des Misstrauens“
       
       Lehrerinnen mit Kopftuch werden in den Schulen oft angefeindet. Die Bremer
       Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakaşoğlu vermisst Differenzierung.
       
   DIR Urteil zum Kopftuchverbot an Schulen: Schluss mit dem Dogma
       
       Bizarr, dass gerade Berlin noch glaubt, Lehrerinnen mit Kopftuch seien eine
       Gefahr für den Schulfrieden. Das Gegenteil könnte der Fall sein.
       
   DIR Streit um das Kopftuch: Es ist noch lange nicht vorbei
       
       Auch vor dem Bundesarbeitsgericht hat das Berliner Neutralitätsgesetz
       keinen Bestand. Die SPD will den Kampf für das Kopftuchverbot weiterführen.
       
   DIR „Kopftuch-Streit“ vor Gericht: Berlin unterliegt
       
       Die Kopftuch-Rechtsprechung aus Karlsruhe gilt auch in der Hauptstadt. Das
       Bundesarbeitsgericht gab der muslimischen Klägerin recht.