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       # taz.de -- Corona in Deutschland: Wie schlimm wird der Winter?
       
       > Die Infektionszahlen steigen, aber langsamer als anderswo in Europa.
       > Warum? Und was muss passieren, damit es nicht schlechter wird?
       
   IMG Bild: Die Zahlen steigen, die Temperaturen fallen: Coronatest-Drive-In in Bonn
       
       Wenn man die Entwicklung der Coronazahlen in Deutschland betrachtet, kann
       man derzeit zu sehr unterschiedlichen Bewertungen kommen – je nachdem, auf
       welche Zahlen man sich konzentriert und womit man sie vergleicht.
       
       Denn einerseits sind die Werte, die das [1][Robert-Koch-Institut jeden Tag
       bekannt gibt], durchaus besorgniserregend: Die Zahl der täglich gemeldeten
       Corona-Infektionen ist in den letzten zwei Monaten im 7-Tage-Mittel von
       unter 400 auf über 1.800 gestiegen. Und anders als vielfach behauptet, ist
       dieser Anstieg nur zum kleineren Teil damit zu erklären, dass mehr Tests
       durchgeführt und damit auch mehr leichte Fälle erkannt werden.
       
       Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit aber weiterhin gut da:
       In [2][Spanien] gibt es, bezogen auf die Bevölkerungszahl, derzeit 12-mal
       so viele Fälle pro Tag, in [3][Frankreich] 8-mal und in Österreich 4-mal so
       viele.
       
       Noch besser sehen – zumindest auf den ersten Blick – die Zahlen der
       Corona-Todesfälle und -Intensivpatient*innen aus. Während die Zahl der
       Infektionen seit 10 Wochen fast permanent ansteigt, blieben die Todesfälle
       lange auf unverändert niedrigem Niveau von durchschnittlich 3 bis 6 pro Tag
       – ein Bruchteil der über 200, die im Frühjahr verzeichnet wurden.
       
       ## Lockdown vermeidbar
       
       Ein genauerer Blick zeigt aber, dass es zuletzt auch hierzulande einen
       Anstieg gab: So ist die Zahl der täglich im Schnitt gemeldeten Coronatoten
       innerhalb von einer Woche schlagartig von 5 auf fast 10 angestiegen. Und
       auch die Zahl der Coronapatient*innen auf Intensivstationen lag in dieser
       Woche 25 Prozent höher als zwei Wochen zuvor.
       
       Allerdings bleiben die Zahlen damit weiterhin auf einem sehr niedrigen
       Niveau: Von den über 30.000 Intensivbetten in Deutschland sind aktuell über
       300 mit Coronapatient*innen belegt.
       
       Aus Sicht von Uwe Janssens, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in
       Eschweiler und Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für
       Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), ist Deutschland darum gut für den
       Herbst und Winter gerüstet. „Wenn die Menschen sich an die Regeln halten,
       dann sollte ein zweiter Lockdown vermeidbar sein und unsere medizinischen
       Kapazitäten reichen“, sagte er der taz.
       
       Auch wenn es derzeit nicht zu wenig Intensivbetten gibt – unproblematisch
       ist die Behandlung keineswegs, berichtet der Intensivmediziner. Denn
       Covid-19 ist eine langwierige Erkrankung: Durchschnittlich 24 Tage habe die
       Behandlung eines Patienten auf den Intensivstationen gedauert. „Das ist
       viel.“ Und noch heute gebe es ein paar wenige Patienten, die im Frühjahr
       erkrankt seien, aber immer noch intensivmedizinisch therapiert werden
       müssten. Das Virus befalle nahezu alle Organe, die Lunge jedoch besonders
       schwer: „Wir sehen gerade bei den Älteren teilweise katastrophale Schäden
       an der Lunge. Sich davon zu erholen dauert enorm lange.“
       
       Dass die Situation in Deutschland so viel besser ist als in anderen
       Ländern, liegt aus Sicht von Janssens vor allem an unterschiedlichem
       Verhalten. „Dieser rasante Anstieg in unseren Nachbarländern hat allein
       soziologische Gründe“, sagt er. „Das Virus ist dort ja nicht gefährlicher
       als bei uns.“ Sondern die Menschen verhielten sich vielerorts so, als
       hätten sie aus dem Frühjahr nichts gelernt. „Für mich ist diese Haltung
       völlig unverständlich.“
       
       In Deutschland hat Janssens in den vergangenen Monaten dagegen spürbare
       Veränderungen im Alltagsverhalten insbesondere älterer Menschen beobachtet.
       „Wir sehen, dass die Älteren inzwischen vorsichtiger agieren und, anders
       als manche Jüngere, sehr darauf achten, möglichst wenige Risiken
       einzugehen.“ Ältere Menschen, die noch im Frühjahr, zu Beginn der Pandemie,
       die Hauptleidtragenden gewesen seien, sich zahlreich infizierten und
       besonders von den schweren Krankheitsverläufen betroffen waren, hätten aus
       der Erfahrung gelernt und achteten mittlerweile stärker darauf, größere
       Menschenansammlungen zu meiden, trügen Masken, befolgten die Hygieneregeln,
       lobt der Arzt – und gefährdeten sich und andere auf diese Weise weniger als
       viele Jüngere.
       
       Dieses veränderte Verhalten spiegelt sich in der Altersverteilung der
       Neuinfizierten wieder: Während die über 80-Jährigen zu Beginn der Epidemie
       weitaus stärker betroffen waren als der Schnitt der Bevölkerung, gab es in
       dieser Altersgruppe im Sommer unterdurchschnittlich viele Fälle. Und vom
       deutlichen Anstieg seit Juli waren die Älteren zunächst gar nicht
       betroffen. Erst seit drei Wochen steigen die Zahlen auch bei jenen, die
       über 80 sind, wieder leicht an.
       
       ## An die Regeln halten
       
       Diese Altersverteilung erklärt auch, warum der Anstieg der Infiziertenzahl
       sich bisher nur so wenig in der Zahl der Toten und Intensivpatient*innen
       niederschlägt. „Jüngere Menschen haben weniger Begleiterkrankungen, ihre
       Organe haben weniger chronische Schäden und sind widerstandsfähiger als die
       älterer Menschen“, sagt DIVI-Präsident Janssens. In der Intensivmedizin sei
       das Alter eines Patienten seit jeher mit dem Therapieerfolg verknüpft, und
       dies gelte auch bei Covid-19: „Je älter die Patienten sind – bei gleicher
       Grunderkrankung und bei gleicher Schwere der Krankheit –, desto schlechter
       ist ihre Prognose.“
       
       Doch was muss passieren, damit sich der aktuelle Anstieg nicht fortsetzt
       und die Situation in Deutschland so vergleichsweise gut bleibt, wie sie
       ist? Da sind sich die Expert*innen weitgehend einig: Einschränkungen wie im
       Frühjahr, als Schulen, Kitas und die meisten Geschäfte flächendeckend
       geschlossen wurden, sind nicht nötig; es würde genügen, wenn
       Großveranstaltungen verboten bleiben und ansonsten die bestehenden Regeln
       konsequent eingehalten werden: Abstand halten, regelmäßig Hände waschen,
       vor allem in geschlossenen Räumen Masken tragen und regelmäßig lüften.
       
       Weitergehende Maßnahmen, die helfen könnten, aber viel Geld kosten würden,
       plant die Politik bisher nicht. So können Luftfiltersysteme die Luft in
       geschlossenen Räumen relativ zuverlässig von Aerosolen befreien, in denen
       sich die Coronaviren verbreiten.
       
       Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina sprach sich [4][in
       einer neuen Stellungnahme] in dieser Woche für den Einsatz solcher Geräte
       aus; auch SPD-Gesundheitsexperte [5][Karl Lauterbach fordert], alle
       Schulen damit auszustatten, weil diese im Winter nicht ständig gelüftet
       werden können und permanentes Maskentragen dort nicht umzusetzen ist. Vor
       den Kosten scheuen die Länder bisher aber zurück.
       
       Auch bessere Masken könnten helfen, die Übertragung von Corona weiter zu
       verringern. Bisher empfiehlt das Gesundheitsministerium ebenso wie das
       Robert-Koch-Institut der Bevölkerung, sogenannte Alltagsmasken zu tragen,
       also wiederverwendbare, nichtmedizinische Stoffbedeckungen für Mund und
       Nase. Diese sind durchaus hilfreich, bieten aber, je nach Material und
       Sitz, oft weniger Schutz als medizinische Masken.
       
       ## Impfstoff und neue Tests
       
       In Tests schneiden einfache medizinische OP-Masken besser ab als viele der
       weit verbreiteten Stoffmasken. Noch deutlich besser schützen die wesentlich
       teureren FFP2-Masken. Gerade in geschlossenen Räumen mit vielen Menschen,
       in denen die Maskenpflicht nicht durchgesetzt wird – etwa in vollen Zügen
       –, werden diese von immer mehr Menschen eingesetzt, um sich selbst zu
       schützen.
       
       Noch keine Hilfe bieten werden in diesem Winter die [6][Impfstoffe], an
       denen zahlreiche Unternehmen und Wissenschaftler*innen weltweit mit
       Hochdruck arbeiten. Selbst wenn sie Erfolg haben sollten, stünde ein
       Impfstoff frühestens im nächsten Jahr zur Verfügung.
       
       Schneller gehen könnte der Einsatz neuer Tests, mit denen eine
       Corona-Infektion unmittelbar nachgewiesen werden könnte statt in einem
       Labor, was bisher mindestens einen, oft aber mehrere Tage dauert. Dafür
       plädierte auch die Leopoldina: Es würden „zeitsparende, laborunabhängige
       und dezentral durchführbare Testverfahren“ gebraucht, die schneller als
       bisher zwischen einer Sars-CoV-2-Infektion und einer gewöhnlichen Erkältung
       oder der Grippe unterscheiden könnten.
       
       Antigen-Schnelltests könnten „trotz einer geringeren Spezifität und
       Sensitivität den Nachweis einer Infektiosität erbringen“. Neben solchen
       Zukunftsszenarien fordern die Wissenschaftler*innen, zu denen auch der
       Charité-Virologe Christian Drosten gehört, aber vor allem „bundesweit
       verbindliche, wirksame und einheitliche Regeln“ und diese „konsequenter als
       bisher um- und durchzusetzen“.
       
       26 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4
   DIR [2] /Abgeriegelte-Stadtteile-in-Madrid/!5711579
   DIR [3] /Verschaerfte-Coronaregeln-in-Frankreich/!5716612
   DIR [4] https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemie-wirksame-regeln-fuer-herbst-und-winter-aufstellen-2020/
   DIR [5] /Mobile-Luftreiniger-gegen-Corona/!5709831
   DIR [6] /Kampf-gegen-das-Coronavirus/!5709777
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
   DIR Malte Kreutzfeldt
       
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