URI: 
       # taz.de -- Zerrissenes Frankreich: Das gestresste Land
       
       > Fünf Jahre nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo und dem Novemberterror:
       > Frankreich steckt in einer tiefen Identitätskrise.
       
       Es ist eine Diskussion, die ernsthaft hitzig immer wieder in Frankreich
       geführt wird: Wie kleidet man sich für die Schule? Bauchfrei geht gar
       nicht, sagen Stockkonservative. Noch bizarrer als sonst erscheint diese
       Klamottendebatte jetzt vor dem verheerenden Hintergrund einer zweiten
       Coronawelle mit hohen Fallzahlen und regional strikten Beschränkungen, die
       bei den dortigen Verantwortlichen auf Protest stoßen, weil sie nicht
       mitentscheiden dürfen. Die neuen Verbote schwächen empfindlich den von
       [1][Staatspräsident Macron und der Regierung] unter dem neuen
       Premierminister Castex jüngst vollmundig angekündigten Plan „France
       Relance“ zur Wiederankurbelung der coronageplagten Wirtschaft. Sie sind
       aber noch nicht vergleichbar mit dem repressiven landesweiten Lockdown im
       Frühjahr. Ihn will der Staat derzeit unbedingt vermeiden und appelliert
       deshalb an die Bürger:innenvernunft, es doch bitte (und ordentlich
       bekleidet) mit dem geliebten Savoir vivre nicht zu übertreiben.
       
       Die unselige Klamottendebatte, sie erscheint wie ein verirrtes Puzzleteil
       eines französischen Gesellschaftpuzzles. Ein Puzzeln ist es, bei dem eine
       auf verschiedenen Ebenen gestresste Nation ins Stocken geraten ist. Wie
       zerrissen also darf die Jeans im Klassenzimmer sein? Bildungsminister
       Blanquer von der Regierungspartei LREM fordert allen Ernstes eine „tenue
       républicaine“, was immer Verzopftes das auch sein mag – vielleicht eine
       bodenlange Trikolore für Elev:innen in den Nationalfarben, möchte man ganz
       unernst einwerfen. Unter dem Hashtag #lundi14septembre hatten sich
       Schüler:innen zuletzt vehement dafür eingesetzt, sich nirgendwo kurzen Rock
       und Co. verbieten zu lassen.
       
       Anstatt aber in einem sich auf dem Papier auf Freiheit berufenden
       Gemeinwesen unisono Solidarität und Laissez-faire auszurufen, kommen
       widersprüchliche Signale aus Gesellschaft und Politik. Hier arbeiten sich
       an überkommenen Konventionen hängende Menschen, meist Männer, letztlich an
       einer Denkfigur ab, die es in der Realität nie gegeben hat, auch vor 1968
       nicht: das gute, alte Frankreich, das Frankreich, in dem Frauen und
       Mädchen, sich je nach Situation kokett bis „anständig“ zu benehmen wussten,
       Männer noch „echte“, verführerische Männer waren, und die vielen
       Einwander:innen, meist aus den ehemaligen französischen Kolonien, brav sich
       ghettoisieren ließen.
       
       Frankreich aber birgt natürlich nicht erst sozialen Sprengstoff seit dem
       Auftauchen der Gelbwesten Ende 2018. Jenes Phänomen, wie auch die Aufstände
       in maroden französischen Vorstädten bereits 2005, zeigen jedoch wie in
       einem Brennglas Ressourcen- und Verteilungskämpfe. Und: Gewaltexzesse von
       Protestierenden und der nicht selten rassistisch agierenden Staatsmacht.
       Diese komplizierte gesellschaftliche Gemengelage hat nichts zu tun mit dem
       republikanischen Pathos, das Staatspräsident Emmanuel Macron auch im Alltag
       eifrig bedient. Sie ist geprägt von Frust und Minderwertigkeitsgefühlen auf
       der einen und Elitismus auf der anderen Seite.
       
       ## Neue Brüche in der Gesellschaft
       
       Die frühere Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von Charlie Hebdo, Romy
       Strassenburg, sagte kürzlich prägnant in einem taz-Interview (als der
       [2][Prozess begann zum islamistisch motivierten Attentat] auf die
       Satirezeitung), dass das französische annus horribilis 2015 mit seinen
       großen Fragen zu Identität, Religion und Terror ein Stück weit abgelöst
       worden sei von neuen Fragen, die neue Brüche innerhalb der Gesellschaft
       aufgezeigt hätten. Öffentlich im Fokus seien nun weniger abgehängte,
       radikalisierte junge Muslime, sondern mehr eine weiße frustrierte
       Unterschicht in urbanen Randzonen, die auch vor Gewalt nicht
       zurückschrecke. Frankreich, so Strassenburg, „ist von einer sozialen
       Einheit oder Befriedung wohl noch weiter entfernt als 2015“. Jetzt am
       Freitag wurden denn auch zwei Journalist:innen bei einem [3][Messerangriff
       in der Nähe des früheren Büros von Charlie Hebdo] verletzt.
       Antiterroreinheiten ermitteln; es bleibt unruhig – auch beim Thema
       Islamismus.
       
       Macron hielt Anfang September eine Ansprache im Pariser Panthéon, dort, wo
       viele Berühmtheiten Frankreichs beerdigt sind. Tenor der Rede: Die Werte
       der französischen Republik wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und
       Laizität seien „unteilbar“. Und in einem Diskurs Mitte Juni nach der
       zweiten großen Pariser Antirassismus-Demo, sagte Macron denn auch
       tatsächlich: „Dieser Kampf ist nicht hinnehmbar, wenn er von Separatisten
       gekapert wird.“ Gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung müsse
       man vorgehen, aber bitte nicht so. Wie dann? Das Land hat sichtlich
       Probleme mit der Akzeptanz seiner staatlichen Organe – und Menschen, die
       kritisch darüber denken, werden an den Pranger gestellt.
       
       Frankreich driftet an neuralgischen Punkten stark auseinander. Und die
       monetäre Kluft zwischen Ärmeren und Reichen wächst stetig. Der soziale
       Wohnungsbau etwa ist unter Macron spürbar weniger geworden. Eine
       versprochene sogenannte Reichensteuer ist nie gekommen. Ob gute Bildung und
       gute Förderung gegeben sind, hängt im zentralistisch geführten und in der
       Machtfülle stark auf den Staatspräsidenten ausgerichteten Hexagon häufig
       von der „richtigen“ Adresse ab – und dem Abschluss an einer
       Eliteeinrichtung. Wer sich etwa für Jobs bewirbt, fällt nicht selten qua
       nichtfranzösisch klingendem Namen und Herkunft aus als desolat geltenden
       Vorstädten durchs Raster.
       
       ## System der Ungleichheit
       
       Erst kürzlich hat der machtlose, aus dem konservativen Lager stammende
       Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Jacques Toubon, daran erinnert,
       dass das „System Frankreich“ als Ganzes infrage stehen müsse: „ein System,
       das Ungleichheiten schafft und erhält“. Für Menschen, die nicht französisch
       aussähen und/oder materiell nicht gut gestellt seien, „hält die Republik
       nicht ihre Versprechungen“.
       
       Dieser Zustand war schon vor Macron gegeben, aber es hat sich unter ihm,
       entgegen seinen Versprechungen, in Richtung sozialer und wertschätzender
       Aufstiegsmöglichkeiten fast nichts getan. Jener Macron ist gemeint, der in
       seinem Wahlkampf 2017 mit der Bewegung La République en Marche (LREM) wie
       Kai aus der Kiste erfolgreich für ein Frankreich „jenseits von rechts und
       links und im Aufbruch“ eintrat, der Mann, der die Sozialisten und die
       Konservativen bis heute weitgehend kannibalisiert hat. Jener Macron, der
       sich in seinem Wahlkampf betont sozialdemokratisch und multikultiaffin gab.
       Und der jetzt, im Hinblick auf das wahrscheinliche finale Wahlduell 2022
       zwischen ihm und Marine Le Pen, der Chefin des Rassemblement National,
       strategisch in seiner innenpolitischen Programmatik immer weiter nach
       rechts rückt. Garniert mit Wischiwaschidurchhalteparolen à la „Nach vorne
       gucken und niemanden dabei zurücklassen“.
       
       Dieser Mix treibt nicht wenige in der Partei mittlerweile in trübe
       Ratlosigkeit; die Stimmung ist schlecht und grabenkämpferisch bei LREM.
       Mehrere Abgeordneten haben die Nationalversammlung verlassen, und Pierre
       Person, der stellvertretende LREM-Vorsitzende, ist jüngst zurückgetreten.
       Aurore Bergé, eine eher konservativ tickende Abgeordnete, warnte jüngst in
       Le Monde: „Unsere Bewegung ist in einer echten Malaise. Wir wissen nicht
       mehr, wer wir sind und wofür wir stehen.“ Was den von sich eingenommenen
       „Roi Macron“ wohl wenig juckt – ihm ist das technokratische und vertikale
       Durchregieren wichtiger. Die Bewegung sieht er als Vehikel zur Macht.
       
       ## Sozialisten so gut wie tot
       
       Auch die heftig um sich selbst kreisenden Oppositionsparteien und die nach
       langer Zeit ersten sichtbaren Erfolge auf der deutsch-französischen
       EU-Achse lassen es für Macron derzeit (noch) nicht wirklich ungemütlich
       werden. Die Parti Socialiste (PS) ist so gut wie tot und diskutiert nur
       noch die Frage, ob es nicht schlau wäre, sich hinter den bei den letzten
       Europa- und Kommunalwahlen sehr erfolgreichen Grünen (EELV) zu versammeln.
       Doch EELV stellt sich auf nationaler Ebene ungeschickt an. Will die Partei
       überhaupt an die große Macht, will sie einen eigenen
       Präsidentschaftskandidaten?
       
       Weder versuchen die Grünen ihr Verhältnis zum Liberalismus zu klären, noch
       sind sie sich klar darüber, ob sie in Zukunft einen radikalen, stärker
       emotional geprägten Kurs oder einen eher rationalen, gemäßigten anstreben.
       Und zwei einflussreiche Figuren bei EELV, der Grenobler Bürgermeister Éric
       Piolle und der EU-Parlamentarier Yannick Jadot, sind sich im wahrsten Sinne
       des Wortes nicht grün. Eine Zusammenarbeit mit der konservativen
       republikanischen Partei (LR), ebenfalls uneins und zerstritten, ist, anders
       als Schwarz-Grün-Optionen hierzulande, für beide Seiten null Thema. Und
       dann wäre da noch der in populistischer Rhetorik perfekte Jean-Luc
       Mélenchon, Chef der linken Bewegung La France insoumise. Da sich aber weder
       die Grünen noch die Sozialisten auf ihn als Präsidentschaftskandidaten
       verständigen werden, bleibt die Linke wohl erst mal disparat, so sich nicht
       doch noch eine linke und zur Abwechslung mehrheitsfähige Partei gründet.
       
       Anders als in Deutschland, wo qua Wahlsystem und föderalistischem Prinzip
       eine neue Partei nicht aus dem Stand zum Durchmarsch antreten kann, ist es
       in Frankreich wesentlich leichter, auf nationaler Ebene Stimmungen und
       Befindlichkeiten in einer Bewegung zu bündeln, siehe LREM. Wenn es nun
       Macron als dem Mächtigsten im Staate und der derzeitigen Regierung nicht
       langsam gelingt, den sozialen Sprengstoff mit Rationalität und Weitblick zu
       entschärfen, kann die Stimmung, die ob Corona doppelt gestresst ist, brüsk
       kippen. Das Land würde dann eine gewalttätige Neuauflage der Gelbwesten
       oder ähnlicher sozialer, durchaus heterogener Bewegungen erleben.
       Vorsorglich wird schon mal die Nationalhymne, die blutrünstige Marseillaise
       aus Revolutionstagen, bei Demos jeglicher Couleur gesungen.
       
       Die Republik – sie stresst die Menschen in Frankreich gerade. Sie lässt sie
       nicht los.
       
       26 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kolumne-Air-de-Paris/!5563174
   DIR [2] /Prozessbeginn-Charlie-Hebdo-Anschlag/!5711112
   DIR [3] /Nah-der-alten-Bueros-von-Charlie-Hebdo/!5716674
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harriet Wolff
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
   DIR Gelbwesten
   DIR Islamismus
   DIR Marine Le Pen
   DIR Charlie Hebdo
   DIR Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Schwerpunkt Islamistischer Terror
   DIR Schwerpunkt Islamistischer Terror
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Charlie Hebdo
   DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ermittlungen in Frankreich: Heikles Thema Antisemitismus
       
       Erst sah es wie ein Unfall aus. Jetzt beschäftigt der womöglich
       antisemitische Hintergrund eines Todesfalls Frankreichs
       Präsidentschaftswahlkampf.
       
   DIR Konservative in Südfrankreich: Das vergiftete Geschenk
       
       In Frankreich wollte sich Macrons Regierungspartei für die Regionalwahlen
       mit den Konservativen verbünden. Doch das ging gründlich schief.
       
   DIR Rechtsextreme in Frankreich: „Diskriminierung, Hass und Gewalt“
       
       Die französische Regierung verbietet die bekannteste Identitären-Gruppe des
       Landes. Die Génération identitaire gilt als Keimzelle von Gruppen in
       anderen Ländern.
       
   DIR Anschläge in Europa: Terror von zwei Seiten
       
       Der IS ist geschwächt, aber nicht besiegt. Seine Ideologie lebt weiter. Und
       weltweit sollen rund 20.000 Kämpfer zum Einsatz bereitstehen.
       
   DIR Nach Mord an Lehrer in Frankreich: Paris greift hart durch
       
       Frankreichs Staatsführung will zeigen, dass die Republik auf die
       islamistische Tat reagiert. Am Montag gibt es vielerorts Razzien.
       
   DIR Trauer um ermordeten Lehrer bei Paris: Der Lehrer und die Hetze
       
       Samuel Paty scheute im Unterricht über Meinungsfreiheit heikle Themen wie
       Mohammed-Karikaturen nicht. Islamisten machten Stimmung gegen ihn.
       
   DIR Mord an Lehrer in Frankreich: Neun Personen in Gewahrsam
       
       Ein Mann wird auf offener Straße ermordet, die Polizei nimmt
       Familienangehörige des mutmaßlichen Täters fest. Macron spricht von
       islamistischem Terror.
       
   DIR Angriff auf Ex-Charlie-Hebdo-Räume: Täter wollte Redaktion angreifen
       
       Ein mutmaßlicher Attentäter wollte den erneuten Abdruck der
       Mohammed-Karikaturen bestrafen. Doch er wusste nichts vom Umzug der
       Redaktion.
       
   DIR Nah der alten Büros von Charlie Hebdo: Messerangriff in Paris
       
       Bei einem Messerangriff in Paris wurden zwei Menschen schwer verletzt, ein
       mutmaßlicher Täter ist gefasst. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft
       ermittelt.
       
   DIR Prozessbeginn „Charlie Hebdo“-Anschlag: Komplizen vor dem Kadi
       
       14 Personen stehen wegen Beihilfe zum Anschlag in Paris auf das
       Satire-Blatt „Charlie Hebdo“ vor Gericht. Das Magazin druckt die
       Karikaturen erneut.
       
   DIR Kolumne Air de Paris: Fingerschnipsen für Frankreich
       
       Wie naiv man doch sein kann! Unsere Autorin dachte, Emmanuel Macron könne
       Frankreich befrieden. Aktuell wirkt er überfordert.