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       # taz.de -- Neuer Roman von Yoko Ogawa: Wenn es keine Literatur mehr gibt
       
       > „Insel der verlorenen Erinnerung“ löst einen großen Lesesog aus. Es ist
       > mit Klassikern wie „1984“ oder „Fahrenheit 451“ in einem Atemzug zu
       > nennen.
       
   IMG Bild: In Japan und den USA vielfach preisgekrönt: Die Autorin Yoko Ogawa
       
       Wie sieht eine Welt aus, in der immer mehr Dinge unwiderruflich
       verschwinden? Wie reagieren die anderen Menschen auf diese Verluste? Das
       fragte sich die Protagonistin als Kind in Yoko Ogawas Roman „Insel der
       verlorenen Erinnerung“.
       
       Ihre Mutter antwortete damals: „Hab keine Angst! Es tut nicht weh und macht
       auch nicht traurig. Du wirst es kaum wahrnehmen. Eines Morgens wachst du
       auf, und dann ist es auch schon geschehen. Während du mit geschlossenen
       Augen lauschst, um die Morgenstimmung einzufangen, wirst du merken, etwas
       ist anders. Dann weißt du, dass etwas fehlt, dass etwas nicht mehr
       existiert.“
       
       Nur: Was dann fehlt, weiß man nicht. Denn mit den Gegenständen verschwinden
       auch die Bedeutungen der sie bezeichnenden Worte und die Erinnerungen an
       die Dinge aus dem Bewusstsein der Menschen.
       
       Ogawas Roman erzählt die Geschichte einer Schriftstellerin, die befürchten
       muss, dass ihr im Zuge dieser fortgesetzten Verluste die Worte und deren
       vielfältige Bedeutungen – ein Vogel ist nicht nur ein Tier, sondern auch
       ein Symbol der Freiheit – ausgehen werden.
       
       Dass Dinge, Sprache und Erinnerungen zusammenhängen, erfuhr sie schon als
       Kind. Ihre Mutter ließ sie an einem Duftflakon riechen, lange nachdem das
       Parfüm verschwunden war: „Ein gewisser Duft schwebte in der Luft, jedoch
       nicht so wie getoastetes Brot oder der [1][Chlorgeruch im Schwimmbad].
       Sosehr ich mich auch anstrengte, mir fiel nichts dazu ein.“
       
       ## Die gefürchtete Erinnerungspolizei
       
       Verantwortlich für die Eliminierung der Dinge ist die gefürchtete
       Erinnerungspolizei. Als eines Tages die Romane verschwinden, müssen die
       Inselbewohner alle Bücher verbrennen. Die Erzählerin versteht fortan keine
       literarischen Texte mehr und kann naturgemäß auch kaum mehr welche
       verfassen.
       
       Der surreale Text, an dem sie immer hilfloser schreibt, berichtet vom
       Verlust ihrer und anderer weiblicher Stimmen – eine Geschichte, in der sich
       der Roman selbst spiegelt.
       
       ## Der Lektor wird versteckt
       
       Doch auch Freunde der Familie und die Mutter der namenlosen Erzählerin
       werden verschwinden, denn sie gehören zu den wenigen Menschen, die sich
       erinnern können und deshalb von der Erinnerungspolizei verfolgt,
       verschleppt und vermutlich auch getötet werden.
       
       Die Protagonistin gehört nicht zu den Gefährdeten, wohl aber der Lektor,
       der ihre Romane betreut. Sie versteckt ihn bei sich zu Hause in einem
       kleinen Raum unter dem Fußboden, er darf ihn nicht mehr verlassen. Hilfe
       erhält sie nur von einem alten Mann. Lebensmittel werden immer knapper, ein
       Tsunami und ein Erdbeben verschlimmern die Situation der Inselbevölkerung
       zusätzlich.
       
       [2][Ogawas Dystopie] kreist um die Themen Erinnerung, Vergessen, Verfolgung
       und Widerstand. „Insel der verlorenen Erinnerung“ löst einen erstaunlichen
       Lesesog und immer wieder Irritationen aus – wie weit lässt sich die
       Vernichtung der Sprache und der Dinge treiben, und wer wird den Roman
       eigentlich zu Ende erzählen?
       
       ## Universum der Gewaltherrschaft
       
       Dabei mutet die Welt, die die Autorin erbaut, zunächst sehr einfach an:
       eine namenlose Insel, einige wenige Figuren, keine historischen
       Hintergründe, ein anonymes politisches System, das die Bevölkerung durch
       die Erinnerungspolizei kontrolliert.
       
       Diese einfache Erzählanordnung verbirgt eine Konstruktion, die die
       Narration einerseits permanent unterminiert und andererseits assoziativ
       enorm weitet. Die Topografie des Romans erscheint im Modus realistischen
       Erzählens zunächst vertraut, doch mit dem Schwinden der Dinge – Rosen,
       Hüte, Vögel, sogar Jahreszeiten – wird dieser Raum Wort um Wort entleert.
       
       An seine Stelle tritt ein verdichtetes Symboluniversum politischer
       Gewaltherrschaft: Das Versteck unter dem Fußboden, die Angst vor
       Denunzianten und Nachbarn, die Ausgrenzung und Verfolgung von
       Menschengruppen, Hausdurchsuchungen, Flucht, Deportationen, brennende
       Bücherberge, extreme Mangelwirtschaft bei zunehmender Unterdrückung – all
       dies ruft historische Bilder auf, die an Diktaturerfahrungen erinnern, ohne
       dass der Roman sich auf eine einzelne festlegen ließe.
       
       ## Löcher in meinem Herzen
       
       Zugleich verlässt der Roman das klassische Schema, das eine zunächst
       systemkonforme, dann zunehmend kritische und schließlich verfolgte Person
       gegen einen Repressionsapparat stellt. Obwohl sie anderen zur Flucht
       verhilft und ihren Lektor versteckt, muss die Protagonistin erkennen, dass
       sie selbst Teil hat an der Zerstörung der Welt: „Die Löcher in meinem
       Herzen verlangen nach Brennbarem. Sie sind gefühllos, sie treiben mich
       dazu, Dinge zu vernichten.“
       
       Erzählt wird aber auch, wie die Welt und die Selbstwahrnehmung vielleicht
       für einen Menschen mit einer Demenzerkrankung wie Alzheimer oder auch
       speziellen neurologischen Störungen aussehen könnte. Besonders der Schluss,
       an dem die Inselbewohner ganze Körperteile aus ihrer Wahrnehmung verlieren,
       erinnert an die Krankengeschichten des Neurologen Oliver Sacks.
       
       Sprache und Welt, die Erinnerung und der Körper, alles entgleitet Stück für
       Stück und das „Herz bekommt Löcher“ als Resultat dieser permanenten
       Verluste. „Insel der verlorenen Erinnerung“ bezieht seine Spannung aus der
       Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit, in der sich existenziell Menschliches
       und Politisches verbinden.
       
       ## Für Preise nominiert
       
       Ogawas Roman erschien bereits 1994, die Übersetzung ins Englische 2019
       brachte der Autorin Nominierungen für den National Book Award 2019 sowie
       den diesjährigen International Booker Prize ein.
       
       Das Werk der in Japan vielfach, so auch mit dem Akutagawa-Preis
       ausgezeichneten Autorin ist durch fantastische, gerne auch schauerliche
       Elemente und einen reduzierten, nüchternen, gleichwohl poetischen Stil
       geprägt. Inspiriert wurde sie von Autoren wie Jun’ichiro Tanizaki,
       Kenzaburo Oe, Haruki Murakami, Truman Capote und Paul Auster – aber auch
       vom Tagebuch der Anne Frank.
       
       „Insel der verlorenen Erinnerung“ reiht sich ein in die Reihe großer
       literarischer Dystopien, namentlich [3][Ray Bradburys] „Fahrenheit 451“,
       George Orwells „1984“ und Paul Austers „Im Land der letzten Dinge“, eine
       ähnliche Thematik findet sich aber auch in Cécile Wajsbrots jüngst
       erschienenem Roman „Zerstörung“. Yoko Ogawa beschwört die
       Erinnerungsfähigkeit der Literatur, die damit zum Ort des Widerstandes
       gegen den „bodenlosen Morast des Herzens“, gegen Gleichgültigkeit und
       Vergessen wird.
       
       Dieser Sumpf wird für die Inselbewohner ihres Romans immer nur kurz
       aufgewirbelt: „Nach ein paar Tagen hat sich die Aufregung schon wieder
       gelegt. Man geht zur Tagesordnung über, als wäre nichts geschehen.
       Hinterher weiß man nicht einmal mehr, was eigentlich verschwunden ist.“
       Meisterwerke wie diese zeigen, welch ein Verlust es wäre, gäbe es keine
       Literatur mehr.
       
       25 Sep 2020
       
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