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       # taz.de -- Die Gesichter des Umbruchjahrs 1990: Alles teilt sich blitzschnell mit
       
       > Wir sind das Volk? Wir sind ein Volk. Der Band „Das Jahr 1990 freilegen“
       > ist eine faszinierende Materialsammlung aus dem Jahr der Transformation.
       
   IMG Bild: Batman, Deustchland und die CSU. Vor der Kundgebung von Theo Waigel in Leipzig, 19. Februar 1990
       
       Das Jahr 1989 war das Jahr der Revolution, des Umbruchs, der „Wende“. 1990
       war das die Betroffenen wie unsere Gegenwart prägendere Jahr der
       Transformation. Zwischen dem 9. November 1989, dem Tag, an dem die Berliner
       Mauer fiel, und dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, liegen
       elf Monate, in deren Verlauf sich der Ruf „Wir sind das Volk“ schnell zur
       Parole „Wir sind ein Volk“ wandelte und die D-Mark als gemeinsame Währung
       in der DDR eingeführt wurde.
       
       Der Nationalismus war schon vorher da gewesen, so wie die Neonazis und
       ultrakonservative Bürgerrechtler. Bestimmend wurde er aber erst im Jahr
       1990, und für viele Bürger der DDR war er nicht mit Chauvinismus und
       Überlegenheitsgefühlen verbunden, sondern eine nüchterne, beinahe
       pragmatische, realpolitische Option. „Ich bin auch der Meinung, diese
       Wiedervereinigung muss also so schnell wie möglich kommen, es darf also
       nicht allzu lange gewartet werden. Und bis zum Jahresende müsste das
       durchgestellt werden, denn sonst wird eine Massenflucht entstehen“, sagte
       Ende Januar 1990 ein Demonstrant in Dresden einem Reporter.
       
       Zitiert wird der Mann, der für viele sprach, in dem Band „Das Jahr 1990
       freilegen“. Dieses fast 600 starke Kompendium ist Konvolut von Quellen,
       Fotoband und Chronik in einem. Der Großteil des Werks besteht aus Material,
       das im Jahr 1990 oder bald darauf in der Auseinandersetzung mit den
       Ereignissen entstanden ist.
       
       Editiert hat dieses faszinierende Geschichtsbuch Jan Wenzel in
       Zusammenarbeit mit Jan-Frederik Bandel, Anne König, Christin Krause, Elske
       Rosenfeld, Andreas Rost, Wolfgang Schwärzler, Monique Ulrich und Anna
       Magdalena Wolf. Es ist bei Spector Books erschienen, anderthalb Kilo schwer
       und enthält eine Vielzahl von Fotografien, aber auch Werbeanzeigen aus
       Zeitschriften (1990 war das Jahr des Chanel-Parfums „Égoïste“) und
       Aufnahmen des durchs All fliegenden Teleskops Hubble.
       
       Die Leute wären der DDR weiter davongelaufen, der dritte Weg, von dem viele
       linke Oppositionelle, aber wohl auch manche innerhalb der SED/PDS träumten,
       war nie eine realistische Option. Andreas Rost erzählt dazu der taz, wie
       der damalige SPD-Bürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg,
       Pflegepersonal und Ärzte nach Leipzig schickte, weil die medizinische
       Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet war. Rost erinnert sich
       daran, weil er damals, mit 23, am Runden Tisch der Stadt Leipzig saß.
       
       Die Enttäuschung über das Scheitern der Utopie des Dritten Wegs zwischen
       real existierendem Sozialismus und einem Kapitalismus westlicher Prägung
       lasteten manche Künstler und Intellektuelle dem Volk an, und darin war ihre
       Reaktion derjenigen der Nomenklatura des Systems auf die Revolution nicht
       unähnlich, sagt Rost, Fotograf und einer [1][der Besetzer des Tacheles] in
       der Oranienburger Straße in Berlin.
       
       ## Die Stasi-Erzählmaschine
       
       Die einen schwenkten Deutschlandfahnen, die anderen meldeten Widerspruch
       an. Linke Demonstranten zeigten während einer Wahlkampf-Kundgebung von
       Helmut Kohl am 14. März 1990 in Leipzig ein Transparent, auf dem steht:
       „Fressen Ficken Fernse- hen.“ Obwohl das Foto wie fast alle Bilder dieses
       Bandes schwarz-weiß ist, lässt sich erkennen, dass die Wörter in schwarz,
       rot und gold geschrieben wurden.
       
       „Alles teilt sich blitzschnell mit. Wenn in Karl-Marx-Stadt der
       Generalstreik ausgerufen wird, bekommt man das vielleicht am Telefon
       gesagt, gleichzeitig nimmt man aber wahr, wie an vielen anderen Orten auf
       eine solche Nachricht bereits reagiert wird“, erinnert sich Klaus Wolfram
       an diese dynamische Zeit, in dem ein Land in eine Bewegung geriet, die
       einem Tumult glich.
       
       In den ersten Januartagen reiste der westdeutsche Autor Martin Gross nach
       Magdeburg und verbrachte einen großen Teil des Jahres in der DDR. Er
       formulierte eine postmoderne Systemtheorie: „Man hatte den
       Sicherheitsapparat über die ganze Gesellschaft ausgedehnt, aber damit die
       gesellschaftlichen Widersprüche in ihn hereingeholt, die Gleichgültigkeit,
       die Verlogenheit, die Kumpanei und den Opportunismus. … Am Ende verwaltete
       ein riesiger Apparat seine eigenen Fiktionen. Zweihunderttausend
       Stasi-Autoren, die an einem einzigen großen Text woben – die größte
       Erzählmaschine der Welt.“
       
       „Das Jahr 1990 freilegen“ ist Gegenentwurf zur Stasi-Erzählmaschine. Es
       versucht nicht aus einer ideologischen Position zu sagen, was war, sondern
       die Vielfalt der Wirklichkeiten aufzublättern. Für Herausgeber Wenzel ging
       es nicht darum, ein neues Buch zu schreiben, sondern zu sammeln, was längst
       da ist. Dass das die vielleicht beste Methode ist, ein Jahr des Übergangs
       abzubilden, zeigt dieses Buch. Ob wiederum Gross mit seiner Theorie der
       „Erzählmaschine Stasi“ deren Charakter voll erfasst hat, ist eine andere
       Frage.
       
       Monika Haeger, die für die Stasi die Friedensbewegung bespitzelte,
       analysierte in einem Gespräch mit Irena Kukutz und Katja Havemann im
       Frühjahr 1990: „Das war die fiese Praxis: Genossen, die innerhalb der
       Partei kritisch, aufmüpfig waren, zur Stasi bringen. Dann konnten die in
       den ‚feindlichen‘ Gruppen voll agieren, unter der schützenden Hand der
       Stasi ihr kritisches Potenzial verwirklichen. Das ist ja der Wahnsinn,
       diese Schizophrenie. Aus den Parteigruppen waren die kritischen Leute raus,
       die Parteigruppen blieben sauber, und in der Stasi konnte man die Klappe
       aufreißen. Das hat dort niemanden gestört.“
       
       Um die Menschen des Jahres 1990 besser zu verstehen, kann man in ihre
       Gesichter blicken. Denn das ist dieser Band auch: eine Sammlung vieler
       Porträts. Darüber hinaus eine kaum zu überschauende Fundgrube an
       Geschichten und Bildern. Es finden sich darin etwa Protokolle der Sitzungen
       des Zentralen Runden Tisches der DDR, Passagen aus Zeitungsartikeln, die
       Abschrift eines Gesprächs von Friedrich Schorlemmer mit Günter Gaus,
       politische Analysen von Kurt Biedenkopf, Erinnerungen der ersten Besetzung
       einer Stasizentrale in Erfurt durch eine feministische Frauengruppe und
       viele Fotografien von Menschen auf der Straße, in den Betrieben, im Knast,
       beim Silvesterfeiern und beim Demonstrieren.
       
       2 Oct 2020
       
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