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       # taz.de -- Debatte 30 Jahre deutsche Einheit: Daueropfer Ostdeutschland
       
       > Lief wirklich so viel schief bei der Wiedervereinigung? Oder sind viele
       > Ossis nur beleidigt? Eine Diskussion versucht Missverständnisse zu
       > ergründen.
       
   IMG Bild: Was von der DDR übrig blieb: zum Beispiel diese beiden „Schwalben“
       
       Man kann sie langsam nicht mehr hören, all diese Geschichten vom „armen
       Ostdeutschland“, das vom Westen geschluckt worden sei, von den Traumata der
       Ostdeutschen, die mit dem Mauerfall ihr Leben verloren hätten. Von den
       Westdeutschen, die den Ostdeutschen die DDR erklären wollten, die
       Ratschläge, die Wessis Ossis geben. Aber man wird sie wohl noch eine Weile
       ertragen müssen, diese Kurzabrisse über die jüngste deutsche Geschichte,
       insbesondere im 30. Jahr der Wiedervereinigung. In diesem Ostalgie- und
       „Fremdbestimmungs“-Narrativ, in dem [1][Ostdeutschland zum Daueropfer]
       gemacht wird, nahm sich die Ankündigung einer Debatte zu „Wir sind ein
       Volk? Ungleichzeitigkeiten und Missverständnisse der deutschen
       Einheit“, veranstaltelt vom Zentrum Liberale Moderne, dankbar frisch aus.
       
       Dazu sollte man wissen, dass das LibMod, wie sich die Denkfabrik abkürzt,
       2017 von Ralf Fück und seiner Frau Marie-Luise Beck gegründet wurde. Fücks,
       Grünen-Politiker, Ex-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und Moderator der
       Veranstaltung, ist ein Verfechter von Schwarz-Grün. Durch die Ergebnisse
       der Kommunalwahl am vergangenen Wochenende in Nordrhein-Westfalen, mit der
       eine Koalition aus CDU und Grünen auch auf Bundesebene eine reale Chance
       erfahren hat, dürfte sich Fücks derzeit mehr denn je der Zukunft zugewandt
       fühlen. Doch das ist eine andere Geschichte von Zukunftsszenarien.
       
       Am Montagabend im Berliner Ensemble, das in Laufnähe zum Regierungsviertel
       liegt, ging es dann doch mehr um eine Rück- als eine Vorausschau. Das lag
       weniger an der Inszenierung der Verstanstaltung und den Fragen des
       Moderators. Auch nicht an Sätzen wie jenen, mit denen Bundestagspräsident
       Wolfgang Schäuble den Ossis ein Denkmal setzte: „Alle Menschen, die in der
       DDR gelebt haben, mussten nach dem Mauerfall eine grundlegende
       Verunsicherung erleiden. Während es für die Westdeutschen schon eine
       Zumutung war, dass der Bundestag von Bonn nach Berlin verlegt wurde.“
       
       Nein, dass die Diskussion so rückbezogen war, lag vor allem an jemandem,
       der sich offensichtlich stärker in der Vergangenheit verankert fühlt, als
       den Schritt nach vorn zu wagen: Werner Schulz. Der Grüne und frühere
       DDR-Bürgerrechtler, der 1989 aus dem „Demagogischen Diktatur-Regime“ ein
       neues, zukunftsfähiges Land machen wollte, gab das ostdeutsche Enfant
       terrible – in ganz negativem Sinne.
       
       „Gebrauchswerte“ wie [2][Kitas und Polikliniken,] die der Osten dem Westen
       gebracht hat, seien doch marginal, klagte Schulz. Vielmehr fehle den
       Ostdeutschen die Mitbestimmung. „Die Lebenserfahrung der Ostdeutschen ist
       zu wenig zum Tragen gekommen“, so Schulz. Um dann das ewige Klagelied
       anzustimmen: Bei der Wiedervereinigung sei „emotional einiges
       schiefgelaufen“, es wurden viele Chancen verpasst, der Vereinigungsprozess
       sei zu schnell gegangen.
       
       ## Jobverlust bedeutet häufig Identitätsverlust
       
       Anfangs mochte man Schulz noch zustimmen: Ostdeutsche sind in der Tat
       selten in der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen,
       wissenschaftlichen Führungselite zu finden. Sie verfügen weitgehend nicht
       über das Vermögen von Westdeutschen. Der massenhafte Verlust von Jobs war
       nicht nur eine existenzielle Frage, sondern vielmehr die einer verloren
       gegangenen Identität. Und ja, auch heute noch werden Ostdeutsche
       ausgegrenzt, weil sie „Ossis“ sind. Die Frage, die dahinter mitschwingt,
       lautet allerdings: Grenzen sich manche Ostdeutsche nicht selber aus? Indem
       sie heute noch, 30 Jahre nach dem Mauerfall, ihre Herkunft zum alles
       überfrachtenden [3][Kriterium für Erfolg, Misserfolg und Glück] erklären?
       
       Wenn [4][Angela Marquardt], 1971 in Mecklenburg-Vorpommern geboren und
       derzeit Referentin beim Fraktionsvorstand der
       SPD-Bundestagsfraktion, 2020 Sätze hören muss wie: „Waaas, du trinkst
       Lübzer? Man trinkt hier Rostocker, klar!“ Lübzer Pilz, ein No-Go im
       ostdeutschen Norden. Die mecklenburgische Brauerei produzierte nach dem
       Zweiten Weltkrieg für den Westen und wurde nach dem Mauerfall zu einem
       großen Teil von einem westdeutschen Unternehmen übernommen.
       
       Marquardt, im Übrigen die [5][einzige Frau auf dem Podium], die aus einer
       Familie kommt, die mit ihrer Stasi-Vergangenheit so ostig ist, wie eine
       Familie in der DDR nur sein konnte, schaut bei der Frage nach der Zukunft
       des Ostens eher nach Europa: „Was haben wir aus der Wiedervereinigung
       gelernt?“ Ihr gehe es verstärkt um aktuelle Fragen wie Abtreibung,
       Frauenrechte, Demokratie, Freiheit im weitesen Sinne.
       
       Auch Richard Schröder, Theologe, Abgeordneter der ersten freigewählten
       DDR-Volkskammer und anschließend SPD-Bundestagsabgeordneter, rückte die
       Entwicklung im Osten in den vergangenen Jahrzehnten zurecht. Nach dem
       Mauerfall, sagte Schröder, sei die Lebenserwartung der Ostdeutschen um drei
       Jahre gestiegen und die Suizidrate um 70 Prozent gesunken. Der
       Lebensstandard im Osten sei erheblich gestiegen. Die Lebenszufriedenheit
       von Ost- und Westdeutschen, das zeigen Studien, seien mittlerweile gleich.
       Um es mit Schröder Worten zu sagen: „Es ist eine merkwürdige Diskrepanz
       zwischen der persönlichen guten Lage der Menschen in Ostdeutschland und der
       Zuschreibung des Ostens insgesamt als defizitär.“
       
       Aber wenn der abendliche Griesgram Werner Schulz die Verfassung der
       Bundesrepublik als defizitär empfindet, weil darin nicht „Deutsch als
       Sprache“ festgeschrieben ist, ahnt man, dass der nächste Ex-Bürgerrechtler
       in eine Frustration abgleitet, in der sich viele der einstigen
       „Revolutionäre“ mittlerweile fest eingerichtet haben. Da ist dann wohl auch
       nichts mehr zu machen. In einem solchen Fall ist es wie in einer
       verkorksten Beziehung: Ist eine Seite dauerhaft beleidigt, müht sich die
       andere Seite umsonst ab. Jeder Vorschlag zur Güte, jede Idee zur
       Stimmungsaufhellung, jeder Anstoß für einen positivem Blick verhallen im
       Nichts.
       
       Da kann man es nur mit dem Theologen Schröder halten, der am Ende des
       Abends konstatierte: „Das wird nichts mehr mit den Alten in
       Ostdeutschland.“ Bei der Gestaltung einer gesamtdeutschen Zukunft blicke
       man besser auf die Jüngeren.
       
       15 Sep 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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