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       # taz.de -- Politikwissenschaftlerin über Belarus: „Putin auf schmalem Grat“
       
       > Die EU darf die Lösung der Krise in Belarus nicht Moskau überlassen, sagt
       > Politologin Marie Mendras. Der Kreml habe nicht allzu viele Optionen.
       
   IMG Bild: Uniformierte nehmen einen Demonstranten in Minsk fest
       
       taz: Frau Mendras, die Köpfe der Oppositionsbewegung in Belarus sind außer
       Landes oder in Haft. Trotzdem gehen die Menschen weiter auf die Straße. 
       
       Marie Mendras: Ich will etwas klarstellen: Wir sprechen hier nicht von der
       Opposition. Denn die Menschen, die jetzt [1][auf die Straße gehen], haben
       die Wahl gewonnen. Sie haben es geschafft, eine deutliche Mehrheit der
       Stimmen hinter der Kandidatur von Swetlana Tichanowskaja zu vereinen.
       Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Präsident von Belarus. Er hält
       sich illegal und mithilfe von Repressionen, der Armee und der Polizei an
       der Macht. Die Opposition sind jetzt die Leute, die noch hinter Lukaschenko
       stehen. Besonders Tichanowskaja ist sehr aktiv. Sie hat verstanden, dass
       sie etwas direkter sein muss: Bei ihren Angriffen auf Lukaschenko, aber
       auch in Bezug auf Europa. Sie sagt jetzt klar, dass sie Europas politische
       Unterstützung gegen einen Diktator braucht, der nicht abtreten will.
       
       Was wird passieren? 
       
       [2][Lukaschenko] wird sich nicht mehr lange halten können. Wir müssen uns
       also schon jetzt auf eine Zeit nach Lukaschenko vorbereiten. Das hat auch
       Russlands Präsident Wladimir Putin verstanden. Deshalb muss er sich jetzt
       überlegen, welche Karten er noch ausspielen kann. Für Putin ist das ein
       schmaler Grad, er hat nicht viele Optionen.
       
       Sie haben gesagt, dass eine Lösung der Krise in Belarus nicht beim Kreml
       liege. Könnten Sie das erklären? 
       
       Nehmen Sie die Erfahrung mit der Ukraine: Putin schafft Probleme, um dann
       derjenige zu sein, der die Lösung dieser Probleme blockiert. Das wissen wir
       seit Jahren und wir dürfen nicht in diese Falle tappen. Der Kreml will
       Lukaschenko nicht um jeden Preis an der Macht halten, weil er das nicht
       kann. Moskau hat keinen ernsthaften Plan, um in Belarus einzumarschieren,
       es gibt dort keine Krim und keinen Donbass. Die Belarussen sind heute alle
       gegen die Diktatur vereint. Auch die Möglichkeiten Russlands, dort einen
       Mann Moskaus einzusetzen, sind sehr begrenzt.
       
       Glauben Sie wirklich, dass der Kreml passiv bleiben und nicht versuchen
       wird, das Heft in die Hand zunehmen? 
       
       Diese Frage höre ich oft, aber der Kreml kann nicht agieren. Natürlich ist
       Putins Ziel nicht ein demokratisches Belarus. Aber er kann seinen Willen
       dort jetzt nicht so einfach durchsetzen. Russland ist kein Staat, der
       derzeit in der Lage wäre, ein Land in Europa wie Belarus zu besetzen. Aber
       Putin spielt sein strategisches Spiel mit Europa und der Nato, indem er
       vorgibt, es gebe eine geopolitische Krise im Herzen Europas und man müsse
       sich mit ihm verständigen, um diese Krise zu lösen. Aber das ist keine
       geopolitische Krise, sondern eine Krise in Belarus. Das ist ein friedlicher
       Volksaufstand gegen einen Mann, der nicht wiedergewählt wurde, aber
       trotzdem nicht abtreten will. In Wahrheit ist Belarus dabei, die
       Einflusssphäre Moskaus zu verlassen, so wie die Ukraine und Georgien das
       bereits getan haben.
       
       Dieser Tage ist viel von einer gemeinsamen europäischen Antwort die Rede.
       Aber die hat es auch sonst nicht gegeben. Warum sollte das jetzt anders
       sein? 
       
       Ich verstehe nicht, warum die EU immer kritisiert wird. Europa hat gut und
       schnell reagiert. Alle haben die Gewalt und den Wahlbetrug verurteilt sowie
       den Rücktritt von Lukaschenko gefordert, um den Weg für neue Wahlen frei zu
       machen. Gleichzeitig versucht Brüssel einen Dialog mit Russland
       aufrechtzuerhalten, und das ist auch richtig so.
       
       Trotzdem war gerade Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der
       Vergangenheit sehr um bessere Beziehungen zu Russland bemüht. 
       
       Glücklicherweise hat das jetzt ein Ende. Schade ist jedoch, dass es dazu
       erst der Krise in Belarus, der Repressionen dort sowie der Vergiftung des
       Kremlkritikers Alexei Nawalnys bedurfte, damit der Éysées-Palast die
       geplanten französisch-russischen Treffen im September abgesagt hat. Der
       Dialog mit Moskau, den Macron führen wollte, war eine schlechte Strategie.
       Als jemand, der Russland gut kennt, kann ich nur sagen, dass Putin nie zu
       wirklichen Verhandlungen oder einem Kompromiss worüber auch immer bereit
       war, vor allem nicht über den Donbass. Macron war etwas naiv, als er
       angenommen hat, einen echten Kompromiss mit Putin erreichen zu können.
       
       Es sieht ja im Moment so aus, dass weitere Sanktionen gegen Belarus, aber
       auch gegen Russland wegen der Vergiftung Nawalnys verhängt werden. Halten
       Sie Sanktionen für ein probates Mittel? 
       
       Sanktionen waren ein relativ effizientes Mittel, wie das Beispiel Ukraine
       ab 2014 zeigt. Wirtschaftliche Sanktionen gegen einzelne Personen sind ein
       machtvolles Instrument. Und sie sind das einzige Instrument, das kein
       militärischer Gegenschlag ist. Sanktionen werden oft kritisiert, aber was
       wären die anderen Optionen? In den kommenden Wochen wird es weitere
       Sanktionen gegen Russland und die ehemaligen belarussischen Machthaber
       inklusive Alexander Lukaschenko geben.
       
       Welche Möglichkeiten hat Europa? 
       
       All diejenigen, die hinter Tichanowskaja stehen, haben nie zur Gewalt
       aufgerufen. Sie sind klar in der Lage, eine kompetente Mannschaft
       aufzustellen, um in einigen Monaten einen Übergang hin zu einer
       Verfassungsänderung und Neuwahlen sicherzustellen. Tichanowskaja und ihre
       Mitstreiter waren da immer sehr eindeutig: Sie wollen nicht die Macht
       ergreifen, sondern einen Prozess zu Ende führen, der den Belarussen
       erlaubt, sich für ein neues Verfassungssystem zu entscheiden und ihre
       Regierung zu wählen. Deshalb müssen wir jetzt den Koordinationsrat
       unterstützen. Wenn diese Leute, die die Gesellschaft und die Wähler
       repräsentieren, die Unterstützung der westlichen Demokratien haben, dann
       verleiht ihnen das Legitimation, Autorität.
       
       Und das wird Moskau beeindrucken? 
       
       Ich denke ja. Das zeigt, dass es eine politische Alternative in Belarus
       gibt und Moskau diesen Prozess nicht aufhalten kann. Die EU darf Putin
       nicht die Lösung dieser Krise überlassen, im Gegenteil: Europa muss Putin
       zeigen, dass es das Recht hat, sich um die Zukunft von Belarus zu kümmern.
       Das ist keine Einmischung, das will uns die Kremlpropaganda weismachen. Das
       ist eine notwendige Haltung, um sicherzustellen, dass die Nachbarstaaten
       der EU ihre Wahl souverän treffen können.
       
       Das Interview kam mit freundlicher Vermittlung der Berliner Denkfabrik
       Zentrum Liberale Moderne zustande.
       
       17 Sep 2020
       
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   DIR Barbara Oertel
       
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