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       # taz.de -- Urteil 12 Jahre nach Amoklauf an Schule: Finnland hat zu wenig getan
       
       > Der Staat habe damals genügend Hinweise auf die Tat gehabt, urteilt der
       > Menschenrechtsgerichtshof. Finnland habe seine Schutzpflicht verletzt.
       
   IMG Bild: Nach dem Massaker an der Schule – leere Patronenhülsen in Kauhajoki
       
       Stockholm taz | In einem ungewöhnlichen Rechtsprozess, der nach Ansicht von
       Juristen neue Standards für die Interpretation staatlicher Schutzpflichten
       in ganz Europa setzt, ist Finnland jetzt vom Europäischen
       Menschenrechtsgerichtshof verurteilt worden – weil der Staat das Recht
       seiner BürgerInnen auf Leben nicht ausreichend geschützt und damit zu deren
       Tod beigetragen habe.
       
       „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt“, heißt es in
       Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und gegen dieses Recht
       habe Finnland verstoßen, befand der Gerichtshof in Straßburg in einem am
       Donnerstag veröffentlichten Urteil: Er habe es nämlich versäumt, einen
       Terroranschlag zu verhindern, weil seine Sicherheitsorgane die Mordwaffe
       des Täters nicht rechtzeitig konfisziert hätten, obwohl es ausreichend
       Anhaltspunkte für eine bevorstehende Tat gegeben habe.
       
       Es geht um eine zwölf Jahre zurückliegende Tat: Das [1][Schulmassaker von
       Kauhajoki am 23. September 2008]. Mit einer halbautomatischen Waffe schoss
       ein 22-jähriger Berufsschüler in einem Berufsausbildungszentrum eine Stunde
       lang um sich und tötete neun MitschülerInnen und einen Lehrer, bevor er
       sich selbst das Leben nahm.
       
       Wie sich bald herausstellte, gab es vorab viele Hinweise auf die mögliche
       Tat. Über mehrere Monate hinweg stellte der 22-Jährige Videos ins Netz, die
       ihn bei Schießübungen zeigten. Das [2][Schulmassaker von Columbine 1999]
       bezeichnete er als „beste Unterhaltung, die es jemals gab“, in einem
       Internetforum kündigte er ausdrücklich ein „Kauhajoki School Massacre“ an.
       
       Die Sicherheitsbehörden waren auf den Täter aufmerksam geworden. Eine Woche
       vor der Tat beschloss die Polizei, seine Waffe zu beschlagnahmen, traf ihn
       aber nicht an. Am Vortag der Tat führte dann ein Polizeikommissar ein
       Gespräch mit ihm, hielt aber ein weiteres Tätigwerden für nicht
       erforderlich und beschlagnahmte die Waffe dann doch nicht – der Schüler
       konnte einen Waffenschein vorlegen. In Finnland war es damals der zweite
       Schulamoklauf binnen eines Jahres. Im November 2007 hatte ein 18-Jähriger
       in Jokela acht Menschen getötet.
       
       ## 30.000 Euro Schmerzensgeld für Angehörige
       
       19 Angehörige der Opfer von Kauhajoki riefen den Europäischen Gerichtshof
       an, nachdem der fragliche Polizeikommissar zwar wegen fahrlässiger
       Dienstpflichtverletzung verurteilt wurde und eine Warnung erhielt, es sonst
       aber keine Rechtsfolgen gegeben hatte.
       
       In seiner Urteilsbegründung führt der Menschenrechtsgerichtshof jetzt aus,
       dass ein Staat angesichts des hohen Risikos, der mit einem Gebrauch von
       Schusswaffen verbunden sei „unbedingt ein System angemessener und wirksamer
       Schutzmaßnahmen einführen und konsequent anwenden muss, um einer
       missbräuchlichen und gefährlichen Verwendung solcher Waffen
       entgegenzuwirken und sie zu verhindern“.
       
       Die Beschlagnahmung der Tatwaffe wäre angesichts der Informationen, die die
       Polizei hatte, die „angemessene Maßnahme“ gewesen. Weil diese nicht erfolgt
       sei, habe der finnische Staat seine Aufsichtspflichten verletzt.
       
       Der Gerichtshof macht klar, dass er nicht die Entscheidungen nationaler
       finnischer Behörden und Gerichte aufheben oder ändern kann. Er verurteilt
       Finnland dazu, den Familien der Opfer jeweils 30.000 Euro Schmerzensgeld zu
       zahlen und auch deren Gerichtskosten zu tragen. Seine Klienten seien mit
       dieser Entscheidung zufrieden, ihren Verlust könne ihnen sowieso niemand
       ersetzen, teilte der Anwalt der Angehörigen, Esa Puranen, mit: „Es wurde
       klargestellt, dass das finnische Justizsystem seiner Verantwortung nicht
       nachgekommen ist.“
       
       Martin Scheinin, Professor für Internationales Recht am „European
       University Institute“ in Florenz begrüßte gegenüber dem finnischen
       Fernsehen Yle das Urteil: Es stelle eine neue Interpretation staatlicher
       Schutzpflichten dar. „Ich hoffe, dass dies ein neuer europäischer Standard
       werden wird.“ Eine offizielle Stellungnahme [3][der finnischen Regierung]
       gibt es noch nicht. Sie kann das Urteil binnen drei Monaten anfechten.
       
       18 Sep 2020
       
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