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       # taz.de -- Arbeiterkind mit Arbeiterkinder-Budget: Lernen, sich einen Raum zu nehmen
       
       > Wer mit wenig Geld aufwuchs, kriegt es kaum auf die Reihe: Forderungen zu
       > stellen. Für Bürgerkinder ganz selbstverständlich.
       
   IMG Bild: Manche Menschen im Yoga-Studio sind darin geübt, den Raum einzunehmen, andere nicht
       
       Es ist kurz vor Mitternacht. Es regnet – mein Schirm ist vom Wind zerstört
       worden. Die Straßenbahn kommt erst in 15 Minuten, von der Station sind es
       dann noch immer 10 Minuten zu Fuß. Nach einem unglaublich langen Tag komme
       ich völlig durchnässt und kaputt zu Hause an. Als ich am nächsten Tag einer
       Freundin von meiner Odyssee berichte, fragt sie mich, wieso ich kein Taxi
       genommen habe? Das war nicht einmal auf meinem Radar. Geld auszugeben,
       damit mich wer fährt, die Idee kommt mir erst gar nicht.
       
       Irgendwie kriege ich mein Arbeiterkind-mit-Arbeiterkinder-Budget-Denken
       nicht aus dem Kopf und es prallt immer öfter mit meinem jetzigen
       Akademikerin-mit-Akademikerinnen-Budget-Leben aufeinander. Zum Beispiel
       wenn ich mich mit Kolleginnen treffe und ich als Einzige nie etwas zu
       essen, immer nur zu trinken bestelle.
       
       Ich esse schließlich immer daheim vorm Rausgehen, so wie früher eben, damit
       ich dafür draußen kein Geld ausgeben muss. Massagen, Pediküre,
       Kosmetikerinnenbesuche erlebe ich nur durch Geburtstagsgutscheine.
       Friseurbesuche handhabe ich wie gynäkologische Untersuchungen – zweimal im
       Jahr, weil es sein muss, nicht, weil ich mir was gönne.
       
       Mir war gar nicht bewusst, wie sehr sich meine finanzielle Sozialisation
       aus der Kindheit auf meine heutige auswirkt. [1][Bis ich vor Kurzem das
       Buch „Die Elenden“ von Anna Mayr gelesen habe.] Sie erzählt aus ihrem Leben
       als Kind zweier Arbeitsloser, und auch wenn – wie sie selbst anmerkt – es
       einen Unterschied macht, ob du Arbeiter- oder Arbeitslosenkind bist: Es
       gibt da eine Stelle im Buch, die bei mir für ein Aha-Erlebnis gesorgt hat.
       
       ## Zu viel Platz wegnehmen
       
       Darin beschreibt sie, wie sie Menschen im Yoga-Studio bewundert, die geübt
       darin sind, den Raum einzunehmen. Die der Yoga-Lehrerin sagen, dass der Tee
       leer ist und ihr Knie schmerzt. Und dann beschreibt sie ihre Gedanken vor
       der Yoga-Stunde, und es ist, als hätte sie in meinen Kopf geschaut.
       „Eingangstür – hoffentlich habe ich mich nicht mit der Zeit vertan (...),
       wo zieht man die Schuhe aus (...), es tut mir leid, darf ich fragen, in
       welchem Raum die Stunde stattfindet, ach egal, ich finde es schon heraus,
       will jetzt auch nicht nerven (...), auf zur Stunde, Mist, falscher Raum,
       oder bin ich nur blöd, ist das jetzt der Anfängerkurs, lieber noch mal
       googeln, vielleicht steht es ja online (...), okay, wohin jetzt mit mir und
       der Matte, am besten hier, dann denkt die Lehrerin nicht, ich würde
       absichtlich die letzte Reihe wählen, nimmt die Matte auch nicht zu viel
       Platz weg (...)“
       
       Mein ganzes Leben lang dachte ich, dieses Verhalten wären einfach Teil
       meiner seltsamen individuellen Persönlichkeit, aber Harvard-Professor
       Anthony Abraham nennt uns die „privilegierten Armen“, [2][die in ihrer
       Kindheit eben nicht gelernt haben, einen Raum in der Welt einzunehmen.] Die
       sich auch später nicht trauen, die Zeit von Professor:innen oder eben
       Yoga-Lehrer:innen in Anspruch zu nehmen, auch wenn sie jetzt mit ihnen
       dieselben Räume teilen.
       
       5 Oct 2020
       
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