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       # taz.de -- Umweltschutz im Jahr 1990: „Die Revolution fand nicht statt“
       
       > Vor 30 Jahren forderte eine Kommission des Bundestags echten Schutz der
       > Atmosphäre – erfolglos. Michael Müller kämpfte damals und heute dafür.
       
   IMG Bild: Kohlebegeistert: Helmut Kohl im Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe bei der Eröffnung im Juni 1998
       
       taz: Herr Müller, am 1. Oktober 1990 präsentierten Sie den Bericht „Schutz
       der Erde“ der Enquetekommission des Bundestags. Hätten wir Ihre Anregungen
       befolgt, stünde Deutschland jetzt bei 70 statt bei knapp 40 Prozent weniger
       Treibhausgasen. Was ist schiefgelaufen? 
       
       Michael Müller: 1990 gab es ein Vakuum in der politischen Debatte für
       solche Fragen und eine kurze Zeit von Vernunft und Zusammenarbeit. Es gab
       noch keinen Widerstand, die Lobbyisten waren nicht formiert, die
       Aufbruchstimmung nach dem Ende des Kalten Kriegs zeigte sich im
       UN-Erdgipfel von Rio 1992. Aber dann hat sich das gedreht. Der damalige
       Kanzler Helmut Kohl hörte auf die Industrie, die vor dem Klimaschutz
       warnte. Die deutsche Einheit wurde zu einer ökonomischen Belastung. Und die
       Treuhandanstalt schwenkte nach der Ermordung ihres Chefs Detlev Rohwedder
       1991 von Sanierung auf Abwicklung um: In der Konsequenz hieß das, dass die
       CO2-Emissionen der DDR-Betriebe drastisch nach unten gingen.
       
       Das waren die berühmten Klimaschutzerfolge durch den Mauerfall. Deutschland
       hat damit lange seine CO2-Bilanz poliert. 
       
       In der Enquetekommission hatten wir darauf bewusst nicht gesetzt, sondern
       auf Westdeutschland. Es fehlten ja die Daten für Ostdeutschland. Aber die
       Einheitsdividende wurde dann als Klimaschutz ausgegeben. Das war kein
       Klimaschutz, das war brutale Umwandlung der DDR.
       
       Der Bericht stellte Energieeffizienz, Verhaltensänderung und den Ausbau der
       erneuerbaren Energien nach vorn. Warum hat das nicht gereicht? 
       
       Der Schwerpunkt lag damals auf der Effizienzrevolution. Aber wie das so ist
       in Deutschland: Die Revolution fand nicht statt. Die Effizienz ist nie
       stärker gestiegen als das Wirtschaftswachstum, was nötig gewesen wäre. Wir
       hatten uns eine „Ökonomie des Vermeidens“ vorgestellt, die Prüfung, ob
       Energiesparen nicht den Bau von neuen Kraftwerken überflüssig macht. Daraus
       kam dann auch die Ablehnung der Atomenergie in der Kommission, weil sie
       nicht zum Energiesparen passt. Aber das Sparen hat sich nicht durchgesetzt.
       
       Immerhin: Die Erneuerbaren wurden zur Erfolgsgeschichte. 
       
       Wir hatten ermittelt, dass wir mit Effizienz den Energieverbrauch bei
       gleicher Wirtschaftsleistung um fast 45 Prozent verringern könnten, durch
       anderes Verhalten um 8 bis 12 Prozent. Aber die Erneuerbaren wurden selbst
       bei den Optimisten total unterschätzt. Keiner hat gesehen, welche Wirkung
       die auch von der Kommission angestoßenen Regeln wie das EEG haben würden.
       
       Wer oder was hat den Schwung der Kommission gebremst? 
       
       Gebremst hat die Erkenntnis, dass die deutsche Einheit teuer wurde. Dann
       gab es viel Ignoranz: Der Westen hatte gewonnen, warum sollte man etwas
       verändern? Der Grundfehler war, den Aufbau Ost nicht mit einem Umbau West
       zu verbinden. Die falsche Entscheidung, dem Osten das Westsystem
       aufzudrücken, wirkt bis heute nach. Dann formierte sich der Widerstand der
       Industrie und dann kamen die Klimawandel-Leugner Mitte der neunziger Jahre.
       
       War es auch historisches Pech? Die Deutschen waren zu sehr mit der Einheit
       beschäftigt, ohne gleich noch Industrie und Gesellschaft umzubauen? 
       
       Was keiner von uns damals so richtig sah: Es war auch die Zeit, in der die
       Globalisierung der ökologischen Probleme begann. Vorher war Umweltschutz
       ein ergänzendes Thema, es ging um einzelne Korrekturen. Die Probleme mit
       den [1][planetaren Grenzen], mit unserem ökologischen Fußabdruck, das
       entstand in dieser Zeit. Wir hatten es noch nicht richtig begriffen.
       
       Sie waren SPD-Abgeordneter und später parlamentarischer Staatssekretär im
       Umweltministerium. Wo haben Sie selbst die Weichen falsch gestellt? 
       
       Ich war eher in einer Außenseiterrolle – wie das alle in der Gruppe in
       ihren Fraktionen waren. Der Vertreter der Grünen in der Kommission war
       Wilhelm Knabe, der hat bei den Grünen auch keine große Rolle gespielt.
       Bernd Schmidbauer von der Union, der Vorsitzende der Kommission, wollte die
       Bewahrung der Schöpfung zum zentralen Thema der CDU machen, er hat das
       nicht durchgesetzt. Wir waren der Zeit voraus, aber nicht stark genug, um
       das Thema wirklich auf die Tagesordnung zu setzen.
       
       Was hat uns der Enquete-Bericht von 1990 heute noch zu sagen? 
       
       Es geht weiterhin um mehr Effizienz, anderes Verhalten, Erneuerbare. Aber
       das muss verbunden sein mit demokratischen und dezentralen Strukturen. Ohne
       Teilhabe werden Widerstände wachsen, genossenschaftliche Modelle etwa für
       Energieanbieter sind besser. Und wir müssen viel mehr machen beim
       Bodenschutz und der Landwirtschaft.
       
       Die Enquetekommision hat den Kapitalismus nicht infrage gestellt. Heute
       heißt es bei [2][Fridays für Future]: System Change, not Climate Change.
       Hat sich das geändert? 
       
       Wir haben auch über die Systemfrage gesprochen, aber das war umstritten.
       Und wir wollten den „Praxistest“ beim Klimaschutz. Zudem war die damalige
       Sowjetunion ein [3][schlechtes Beispiel für alle Träume vom
       Ökosozialismus]: Mit einer Wirtschaftsleistung von 60 Prozent der alten
       Bundesrepublik hatte sie doppelt so viele CO2-Emissionen. Auch Marx ist
       immer der Grundlogik gefolgt, dass sich Umweltprobleme erst nach Entfaltung
       der Produktivkräfte lösen. Die Klimafrage ist auch eine Systemfrage, ganz
       klar. Wir wissen zwar, dass ein System mit ewigem Wachstumszwang das
       Problem nicht lösen wird – aber wir wissen zu wenig darüber, wie ein
       anderes System ökologisch aussehen könnte. Uns fehlt die Integration der
       Natur in die Prozesse von Anfang an.
       
       Die EU-Kommission legt ja gerade einen Green Deal vor. Kommt das eine
       Generation zu spät? 
       
       Ich habe Zweifel, ob der Green Deal ausreicht. Brüssel tut so, als ginge es
       um ein neues Geschäft. Nein, es geht darum, wie der Name sagt, die Karten
       neu auszuteilen, mit denen wir spielen. Bei Roosevelts „New Deal“ ging es
       um die soziale Disziplinierung der Wirtschaft, heute muss es um die soziale
       und ökologische Disziplinierung der Wirtschaft gehen. Das ist viel weiter
       als das, was in Brüssel gemacht wird. Aber es ist gut, dass sie endlich
       damit beginnen. In der letzten Kommission stand das Klima- und Umweltthema
       nur am Rande.
       
       Was hat sich in den 30 Jahren entwickelt, von dem Sie damals nicht mal
       geträumt haben? 
       
       Die Reaktion auf unseren Bericht war eine verpasste Chance, ein Versagen
       der Politik. Aber inzwischen ist das Ökologische ins Zentrum gerückt und
       kein Randthema mehr. Wir wissen aber immer noch nicht, wie wir den Umgang
       mit Grenzen – darum geht es – politisch, gesellschaftlich und kulturell
       organisieren. Wir bräuchten auch große Veränderungen im Parlament: Etwa
       einen Ausschuss für Ökologie und Nachhaltigkeit, der wie der
       Haushaltsausschuss alle Gesetze überprüft, ob sie nachhaltig sind und sie
       im Zweifel stoppen kann. Und der Bundestag diskutiert viel zu wenig über
       Zukunftsthemen. Mindestens einmal im Vierteljahr sollten die Abgeordneten
       einen ganzen Tag offen über die Zukunft der Sozialsysteme, der Bildung oder
       den Klimawandel diskutieren. Denn wenn Politik bedeutet, Zusammenhänge zu
       begreifen und auf Tendenzen zu reagieren, dann findet Politik derzeit kaum
       statt.
       
       5 Oct 2020
       
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