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       # taz.de -- Änderung des EU-Freizügigkeitsgesetzes: Regierung misstraut Sozialbehörden
       
       > Ein Gesetzentwurf der schwarz-roten Bundesregierung will Hartz IV für
       > EU-Bürger erschweren. Entscheiden sollen künftig die Ausländerbehörden.
       
   IMG Bild: Hartz IV für die Betreuung von Kindern? Das wird einigen EU-Bürgern verwehrt
       
       Berlin taz Die Bundesregierung will Sozialleistungen für EU-Bürger
       erschweren. Möglicherweise macht der Bundestag dabei aber nicht mit. In
       dieser Woche soll die Entscheidung fallen.
       
       Es geht um Fälle wie diesen: Ein unverheiratetes rumänisches Paar kommt mit
       seinen zwei Kindern im Alter von vier und acht Jahren nach Deutschland. Der
       Mann arbeitet als Kraftfahrer, die Frau betreut den Nachwuchs. Weil der
       Mann zu wenig verdient, beantragt die Frau für sich [1][Hartz
       IV-Leistungen]. Diese werden aber verwehrt, denn schon seit 2007 besteht
       für EU-Bürger ein Leistungsausschluss, wenn sie sich nur zur Arbeitssuche
       oder zur Betreuung von Kindern in Deutschland aufhalten.
       
       Allerdings hat das Bundessozialgericht (BSG) 2013 [2][in einem
       Grundsatzurteil] einen Ausweg für derartige Fälle gewiesen: Der
       Leistungsauschluss gilt nicht für EU-Bürger, die wegen eines anderen
       Grundes Anspruch auf Aufenthalt in Deutschland haben. Dies können etwa
       humanitäre Gründe sein oder der Schutz der Familie. Die Sozialbehörden und
       die Sozialgerichte müssen jeweils eine „fiktive Prüfung“ anderer
       Aufenthaltsgründe vornehmen.
       
       Diese BSG-Rechtsprechung will die Bundesregierung nun aber aushebeln. Die
       „fiktive Prüfung“ eines Aufenthaltsrechts durch Sozialbehörden soll nicht
       mehr genügen, um EU-Bürgern, die noch nie in Deutschland gearbeitet haben,
       Anspruch auf Hartz IV-Leistungen zu geben.Künftig soll es vielmehr auf ein
       von einer Ausländerbehörde festgestelltes Aufenthaltsrecht ankommen. Die
       Bundesregierung befürchtet offensichtlich, dass die Sozialbehörden zu
       großzügig sind und will deshalb die eigentlich zuständigen
       Ausländerbehörden entscheiden lassen.
       
       ## Kritik von Sozialverbänden
       
       Heftige Kritik an der geplanten Änderung kam vom Paritätischen
       Wohlfahrtsverband: „Die Gewährleistung eines menschenwürdigen
       Existenzminimums wäre durch die Gesetzesänderung künftig ausgeschlossen.“
       Die Rechte besonders schutzbedürftiger Personen seien bedroht.
       Ausländerbehörden würden sich für derartige Anträge von EU-Bürgern
       unzuständig fühlen, befürchtet Paritätsexpertin Natalia Bugaj-Wolfram. Es
       gehe um Tausende von Einzelschicksalen.
       
       Der Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK) erinnerte an den Fall
       einer traumatisierten bulgarischen Zwangsprostituierten, die sich in einem
       Frauenhaus in Nordrhein-Westfalen stabilisieren konnte. Sie bekam aufgrund
       einer „fiktiven Prüfung“ ihres Aufenthaltsrechts doch noch Hartz
       IV-Leistungen. Man dürfe vulnerable Personen nicht überfordern, betont der
       KOK, indem nun auch noch die Ausländerbehörden eingeschaltet werden müssen.
       
       Die Kritik der Praxis ist in der Politik angekommen. Der Bundesrat erklärte
       im Juli in einer Stellungnahme, es sei „sinnvoll“, die Möglichkeit der
       fiktiven Aufenthaltsprüfung durch Sozialbehörden zu erhalten. Die
       SPD-Abgeordnete Sylvia Lehmann sagte bei der ersten Lesung des
       Gesetzentwurfs Anfang September, die Kritik des Bundesrat an dem
       Gesetzentwurf sei „sozialpolitisch plausibel.“ Die Linkspartei hat im
       Bundestag inzwischen den Antrag gestellt, auf die Neuregelung zu
       verzichten.
       
       ## Bundestag stimmt über Gesetzentwurf ab
       
       Die geplante Änderung des [3][EU-Freizügigkeitsgesetzes] ist in einem
       größeren Gesetzespaket versteckt. Es soll vor allem den in Deutschland
       lebenden Briten nach dem Brexit Bestandsschutz geben. Dieses Vorhaben
       finden alle Fraktionen gut. Umstritten ist nur die Abschaffung der
       „fiktiven Prüfung“.
       
       Doch nun geht es Schlag auf Schlag: An diesem Montag, 5. Oktober, findet im
       Bundestags eine Expertenanhörung statt. Am Mittwoch sollen etwaige
       Korrekturen im Innenausschuss beschlossen werden und schon am Freitag will
       der Bundestag im Plenum abschließend über den Gesetzentwurf der
       Bundesregierung abstimmen.
       
       Sylvia Lehmann, die zuständige SPD-Abgeordnete, macht den Kritikern
       Hoffnung: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns in der Koalition darauf
       einigen, auf die Änderung zu verzichten.“
       
       Auch von anderer Seite könnte in dieser Woche noch Bewegung in die
       Diskussion kommen. Am Dienstag will der Europäische Gerichtshof über den
       Hartz IV-Ausschluss bestimmter EU-Bürger entscheiden. Es geht dann um einen
       arbeitslosen Polen, der in Deutschland zwar ein Aufenthaltsrecht hat, weil
       seine zwei Kinder hier zur Schule gehen, der aber keine Hartz IV-Leistungen
       erhält.
       
       4 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Deutsche-Einheit-und-Berlin/!5715539
   DIR [2] http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Datum=2016-1&nr=12972&linked=urt
   DIR [3] https://www.gesetze-im-internet.de/freiz_gg_eu_2004/BJNR198600004.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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