URI: 
       # taz.de -- Geschichte des modernen Sports: Metzger gegen Hutmacher
       
       > Mit der Französischen Revolution fing im Sport vieles an: Zeitmessung,
       > breite Teilhabe und lustige Siegprämien. Das hatte demokratisches
       > Potenzial.
       
   IMG Bild: Paris am 14. Juli 1799. Auch zum Jahrestag des Sturms auf die Bastille gab es ein Volksfest
       
       Der schnellste Reiter erhielt als Prämie ein neues Pferd, dem
       Zweitplatzierten wurde ein Pistolenpaar überreicht. Eine bemerkenswerte
       Symbolik war das, die am 28. Juli 1796 auf dem Pariser Marsfeld etwas
       begleitete, das man den Beginn modernen Sports nennen kann. Der Sieger des
       Rennens, das nach dem damaligen Revolutionskalender am 11. Thermidor
       stattfand, war ein Mann namens Vilate-Carbonel, der auf „Le Veneur“
       gewonnen hatte, hinter ihm kam Henry Francony auf „Azor“ ein – wofür er den
       Pistolensatz erhielt.
       
       Am ersten Tag, den 27. Juli, verhinderte schlechtes Wetter hohe
       Besucherzahlen des Festes, aber am zweiten Tag kamen so viele Menschen
       zusammen wie seit 1790 nicht mehr: über 150.000, manche Quellen berichten
       von bis zu 300.000 Menschen. Sie sahen auf dem Marsfeld auch vier
       Laufwettbewerbe, in denen letztlich ein Sieger ermittelt wurde: Zwei
       Männer, von denen wir nur wissen, dass es die „Bürger Tourton und Bocher“
       waren, kamen zeitgleich ein, aber die Verantwortlichen ernannten Tourton
       zum Ersten und Bocher zum Zweiten. Preise für die Läufer: ein Säbel und
       eine Pistolenstütze.
       
       Ort des Ganzen war ein Stadion, wo heute der Eiffelturm steht. Zwei
       Zuschauertribünen waren gegenüber aufgestellt, es war insgesamt etwa 800
       Meter lang. In der Mitte fand sich ein Hügel, der als Bühne etwa für
       Theateraufführungen diente. „Die Laufbahn verlief normalerweise von der
       École Militaire bis zum Fuße des Hügels, ungefähr 300 Meter, während
       Pferderennen unmittelbar um ihn herum verliefen, eine Strecke von ungefähr
       1.800 Metern“, schreibt der britische Historiker [1][Hugh Farey].
       
       Das Fest war ein riesiger Erfolg, schon zwei Wochen später wurde es
       wiederholt. Hier stiegen Heißluftballons auf, es gab Konzerte und ein
       Feuerwerk. Die Menge soll so begeistert gewesen sein, dass sie das Marsfeld
       stürmte.
       
       Eine Woche später meldeten sich die ersten Kritiker: Solche Feste seien
       einer Revolution nicht würdig, sagte der Schriftsteller Marie-Joseph
       Chénier. Er hoffe, dass am 22. September, dem 1. Vendémiaire, also dem
       Neujahrstag des Revolutionskalenders, ein Nationalfest mit größerer Würde
       stattfinden werde. Dabei erinnerte er an das antike Griechenland, das
       „Geburtsland von Kunst und Freiheit“.
       
       Zwei Monate später, am 1. Vendémiaire, wurde die Idee realisiert. Sie ist
       das, was mittlerweile von einigen Olympiahistorikern als
       [2][„Republikanische Olympiade“] bezeichnet wird, die ein Vorläufer der
       Olympischen Spiele der Neuzeit sei. Diesem Fest, das doch würdiger als die
       ausgeuferten Volksfeste im Juli und August sein sollte, attestiert Hugh
       Farey jedoch, dass es nicht den gleichen Enthusiasmus ausgelöst hat wie die
       Spiele im Sommer. Erfolglos war es aber auch nicht, es kam zu zwei
       Wiederholungen, 1797 und 1798. Auch andere Sportfeste, die nicht am
       feierlichen 1. Vendémiaire ausgetragen wurden, waren populär. Es gab sie
       noch bis 1801.
       
       ## Sprünge aus dem Heißluftballon
       
       „Der sportliche Inhalt war anspruchsvoller als alles bis dahin Gesehene“,
       kommentiert Farey. Es gab erstmals Wagenrennen, und auch ein besonderes
       Ringen wurde 1797 veranstaltet: Acht Männer auf jeder Seite, die acht
       Sieger traten danach gegeneinander an, dann die vier Sieger, dann die
       übriggebliebenen zwei. Letztlich siegte Charles-Pierre Oriot, ein
       33-jähriger Metzger aus Paris, der den 34-jährigen Hutmacher Digot
       bezwingen konnte.
       
       Im Jahr 1800 fiel der Laufwettbewerb aus, die bei den Zuschauern populärste
       Sportart. „Die Menge stand auf der Laufbahn“, nannte die englische
       Whitehall Evening Post damals den Grund. Statt fand derweil ein
       Zielschießen auf Lebensmittel. Für Begeisterung sorgten auch
       Heißluftballone, die etwa 1.000 Meter hoch stiegen und von denen Menschen
       mit einem Fallschirm absprangen. All das waren recht neue Spektakel: Die
       erste Ballonfahrt der Gebrüder Montgolfier hatte es 1783 gegeben, den
       ersten Fallschirmsprung aus einem Ballonkorb wagte André-Jacques Garner
       1797, und seine Ehefrau Jeanne-Geneviève Labrosse war 1799 die erste
       Fallschirmspringerin der Welt.
       
       Im Jahr 1801 wurde das letzte Nationalfest in Paris ausgetragen – wieder
       mit einer sportlichen Innovation: Klettern an glitschigen Stangen. Danach
       war zunächst Schluss mit diesen revolutionären Festen. Aber das Ende dieses
       demokratischen Sports, bei dem ein Metzger das Ringen, ein Unteroffizier
       das Laufen und ein Exsoldat das Reiten gewinnen konnten, war das noch
       nicht. Dass es im Gefolge der Französischen Revolution oft zu Festen kam,
       bei denen sportliche Wettkämpfe eine bedeutende Rolle spielten, und dass
       dort oft Männer und Frauen aus allen Schichten teilnahmen, ist bekannt.
       Aber dafür, dass diese Feste geradewegs zu den Olympischen Spielen der
       Neuzeit führten, gibt es keinen seriösen Beleg. Im Gegenteil: Sie waren
       sozial völlig anders ausgerichtet. Als die Olympischen Spiele 1896 in Athen
       erstmals ausgetragen wurden, durften keine Frauen teilnehmen, kaum
       Arbeiter, und das Reiten beispielsweise war nur Offizieren gestattet – bis
       1952.
       
       Bei diesen großen Festen auf dem Pariser Marsfeld – wie auch bei ähnlichen
       Veranstaltungen vor allem in England und Amerika – begründete sich der
       moderne Sport, der sich von mittelalterlichen Turnieren nicht zuletzt durch
       den Einsatz des metrischen Systems und durch Zeitmessungen unterscheidet.
       Von Nationalfesten im Jahr 1798 und 1800 hat der Astronom Alexis Bouvard
       die jeweiligen Leistungen berechnet und sie somit vergleichbar gemacht –
       ein Wesensmerkmal modernen Sports. Die Laufstrecke 1798 betrug 251,5 Meter;
       der Finalsieger Michel Villemereux, ein Unteroffizier, schaffte sie in 32,7
       Sekunden; es entspräche einer 400-Meter-Zeit von 52,0 Sekunden. Ganz neu
       waren Messungen nicht: Im englischen Pferdesport wurden bereits 1721 mit
       Hilfe von Stoppuhren Rennzeiten in Sekunden gemessen. Schon ab 1757 wurden
       in England Zeiten von Läufern und von Pferden auf eine halbe Sekunde genau
       gestoppt. Sogar die legendäre Marke, eine Meile unter vier Minuten zu
       laufen – sporthistorisch offiziell erstmals 1954 vom Engländer Roger
       Bannister geschafft –, soll nicht ganz sicheren Berichten zufolge 1770 von
       einem [3][James Parrot] und 1796 von einem Läufer namens Weller, jeweils in
       London, erreicht worden sein.
       
       ## Selbstverständlichkeit Frauensport
       
       Der – nebenbei gesagt: mehr als umstrittene – Sporthistoriker Henning
       Eichberg vermutete in einem Aufsatz aus dem Jahr 1974, dass es bei diesen
       vorbürgerlichen Rennen „mehr um den Reiz von Wettkampfsituationen und
       -sensationen ging als um absolute Rekorde“. Er fügte hinzu: „Soziale
       Exklusivität bei diesem Verhalten gab es nicht: Grafen rannten ebenso um
       Geldpreise wie Brauerweiber, jedoch nicht im gemeinsamen Wettkampf.“
       Eichberg, der auch als Ideologe der neuen Rechten in Erscheinung trat,
       erkennt in dem Umstand, dass viele Menschen aus allen Schichten antraten,
       keine demokratische Errungenschaft, sondern wertet dies als „Skurrilität
       und zum Teil Absurdität“, die sich so zeigte: „Greise, Krüppel,
       Splitternackte, Kleinkinder und besonders Korpulente, Frauen, darunter auch
       Schwangere.“ Sogar [4][Frauensport] galt ihm als Skurrilität.
       
       Tatsächlich war im frühen Sport, der sich vor allem im England, Frankreich
       und dem republikanischen Amerika des 18. und frühen 19. Jahrhundert
       formierte, eine hohe Partizipation und Diversität zu beobachten, die mit
       dem elitären und exklusiven Gentlemensport der Olympischen Spiele der
       Neuzeit nichts zu tun hatte. Diese bemerkenswerte demokratische Qualität
       rührt von den bürgerlichen Revolutionen in diesen Ländern her, der
       englischen von 1640 bis 1648, der Amerikanischen mit der
       Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Französischen Revolution 1789. Das
       Recht auf Teilhabe wurde dort jeweils erstritten – und dann fröhlich
       ausgelebt.
       
       Aus dem öffentlichen Gedächtnis ist das allerdings weitgehend verschwunden:
       Als Sport gilt mittlerweile vor allem das, was von den Fachverbänden oder
       dem Internationalen Olympische Komitee (IOC) geregelt wird. Dazu passt die
       Behauptung von einer „Republikanischen Olympiade“ im September 1796; das
       sei der Beginn einer Entwicklung, die geradewegs zu den 1896er-Spielen von
       Athen geführt habe, heißt es, und das Buch, das als Hauptquelle für diese
       These dient, „Les Enfants d’Olympie. 1796–1896“ von Alain Arvin-Bérod
       (1996), ist passenderweise mit einem Vorwort des damaligen IOC-Präsidenten
       Juan Antonio Samaranch erschienen.
       
       Was von den IOC-nahen Geschichtsschreibern vorschnell behauptet wird, hat
       sich Historiker Farey genauer angeschaut. Alle Vorschläge, die Spiele, die
       mal „Sansculottides“, mal „Franciades“ und sehr selten nur „Olympiades“
       genannt wurden, mit olympischen Symbolen aufzuladen, seien früh
       gescheitert, schreibt er, „offiziell waren die Olympiaden, um das Mindeste
       zu sagen, gestorben, bevor sie geboren wurden“. Neben antiken griechischen
       Einflüssen bedienten sich die französischen Revolutionäre auch bei Symbolen
       wie den ägyptischen Pyramiden, chinesischen Tempeln oder christlichen
       Engeln. Hugh Farey schreibt: „Die antiken Olympischen Spiele hatten den
       Revolutionsfesten nichts zu bieten.“
       
       Das hindert aber manche Historiker nicht, das Erbe der revolutionären
       Anfänge des Sports für die Zwecke der olympischen Bewegung zu okkupieren.
       Und auf diese Weise, ganz nebenbei, das demokratische Potenzial des frühen
       Sports vergessen zu machen.
       
       5 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://isoh.org/journal-of-olympic-history-vol-22no-1-2014/
   DIR [2] https://theolympians.co/tag/the-republican-olympiad/
   DIR [3] https://www.bbc.com/news/magazine-27298505
   DIR [4] /Olympiasieg-einer-Marokkanerin/!5711833&s=sport+frauen/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Krauss
       
       ## TAGS
       
   DIR Sportgeschichte
   DIR Französische Revolution
   DIR taz Leibesübungen
   DIR Sportgeschichte
   DIR Kolumne Alles, nur kein Fußball
   DIR Goldmedaille
   DIR Schwerpunkt Frankreich
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Sportgeschichte von ganz früher: In 59 Tagen nach Kalkutta laufen
       
       Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es sensationelle Leistungen. Sie
       galten den Gentlemen-Athleten bloß nicht als „Sport“.
       
   DIR Fallschirmspringen nach Maß: Vom Loslassen
       
       Für jene, die die WM boykottieren, stellt die taz Alternativen vor.
       Diesmal: Fallschirmspringen. Erst ganz oben, dann eine kleine Bruchlandung.
       
   DIR Kolumne Erste Frauen: Bloß nicht herumsitzen
       
       Hélène de Pourtalès ist die erste Frau, die je als Seglerin bei den
       Olympischen Spielen startete – und erste Goldmedaillengewinnerin der
       Geschichte.
       
   DIR Tradition des Widerstands in Frankreich: Was Ludwig XVI. Macron lehren kann
       
       Die Protestkultur der Franzosen reicht Jahrhunderte zurück. Die Lektion für
       Könige und Präsidenten lautet: Legt euch nicht mit dem Volk an.
       
   DIR „Die Kulturgeschichte des Sports“: Von Pentathlon und Pallone
       
       Wolfgang Behringer hat für die „Die Kulturgeschichte des Sports“
       überraschende Fakten zusammengetragen. Die serviert er in kleinen Häppchen.