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       # taz.de -- Witzkultur in Deutschland: Witzle g'macht
       
       > Der Witz als ordnungserhaltendes Instrument, als Urform der Propaganda
       > und als Waffe: Warum wir dringend eine politische Humorkritik bräuchten.
       
   IMG Bild: Meister des Humor-Genres „Mann macht Witze über Frauen“: Der Comedian Mario Barth
       
       Als wir noch die Isarindianer waren, zogen wir uns gelegentlich unter einen
       Brückenbogen zurück, um geheime und seltsame Nachrichten aus der Welt der
       Erwachsenen auszutauschen, die meisten von ihnen in Form von sogenannten
       Witzen, von denen man nicht zugeben durfte, nicht zu verstehen, worum es
       überhaupt ging. Die besten hatten natürlich den Pumucklfaktor: Das reimt
       sich, und was sich reimt, ist gut. Einer davon ging so und war sehr
       beliebt: „Ich kenn an Witz vom Onkel Fritz. Die Weiber haben vorn an
       Schlitz.“
       
       Aufgewachsen in einer nur peripher katholischen, frauenstarken Familie
       konnte ich mit gesicherten anatomischen Kenntnissen kommen: Das ist gar
       kein Witz, die haben wirklich einen … Solch aufklärerischer Einspruch kam
       bei meinen mehr oder weniger roten Brüdern schlecht an. Vielleicht
       fürchtete man auch, jenen geheimnisvollen Onkel Fritz zu kränken, den alle
       außer mir zu kennen schienen. Damals wusste ich noch nicht, dass eine
       Aussage in einer Gruppe weniger ihrem Wahrheitsgehalt als vielmehr dem
       Zusammenhalt der Gruppe selbst zu dienen hat.
       
       Außerdem war mir nicht klar, was an einem „Schlitz“ zum Lachen sein sollte.
       Ich hätte selbst gern einen gehabt, statt dieses Schwanzes, der, zugegeben,
       beim Draußenbieseln Vorteile zeigte. Aber ansonsten fand ich einen Schlitz
       einfach schöner. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem eine Tante, man pflegte
       damals Eierlikör zum Nachmittagskaffee zu servieren, von den Anstrengungen
       und Schmerzen berichtete, die man beim Kinderkriegen durch eben diesen
       Schlitz erdulden musste. Da war ich doch ganz froh, bloß einen Schwanz zu
       haben. Man könnte wohl mit Fug und Recht behaupten, ich wäre aus bloßer
       Feigheit ein Mann geworden, wenn es Natur und Gesellschaft nicht eh so
       vorgeschrieben hätten.
       
       Gelacht wurde natürlich auch bei Kaffee, Kuchen und Eierlikör. Meistens
       über Männer. Das war die Basis der Witzproduktion, so schien es. Frauen
       machen Witze über Männer, und Männer machen [1][Witze über Frauen]. Vor
       allem wenn die anderen gerade nicht zuhören. Ganz ähnlich verhielt es sich
       offenbar mit „politischen“ Witzen. Man macht Witze über die Bürgermeister,
       die Polizisten, das Finanzamt, die Regierung, aber nur, wenn von denen
       niemand zuhört. Und „Vorgesetzte“ oder „Amtspersonen“ machen Witze über die
       Leute, die sie verwalten und kontrollieren. Patienten machen Witze über
       Ärzte, und Ärzte machen Witze über Patienten. Lehrer machen Witze über
       Schüler, und Schüler machen Witze über Lehrer. Immer wenn die anderen nicht
       dabei sind. Jede Gesellschaft hat die Witzordnung, die sie verdient.
       
       „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, so lautet der Titel einer
       Untersuchung von Sigmund Freud, und darin wird deutlich, dass Witzemachen
       ein manchmal notwendiges Instrument der Sublimation durchaus
       widersprüchlicher Impulse ist. In Witzen sind Wünsche und Ängste verwoben,
       die man sich „im Ernst“ kaum zu äußern wagte. Dabei ist die „Zote“, so sagt
       es Freud, ein konspirativer Akt von Männern in Bezug auf abwesende Frauen.
       
       Hier öffnet sich auch ein Feld, das Sigmund Freud aus fachlichen Gründen
       weniger interessierte, nämlich der Witz und seine Beziehung zum
       Bewusstsein. Das heißt zu Macht, zu Interesse, zu Ideologie. Man kann Witze
       sowohl als kommunikative Endprodukte von Traumarbeit ansehen wie als
       Urformen von Propaganda und „Überzeugung“. Nationalismus, Rassismus,
       Sexismus und Klassismus äußern sich als Erstes in Form von Witzen. Wer das
       nicht glaubt, braucht sich nur die „Chatrooms“ der rechtsextremen
       Polizistinnen und Polizisten ansehen, die gerade aufgefallen sind. Zugleich
       ist der Witz auch hier noch ein Entschuldungsraum. War doch nur ein Witz.
       Wesentlich aber ist beim Witz als bewusst eingesetztes Instrument, dass
       jemand davon getroffen werden soll, den man zum Zuhören zwingen kann, und
       der sich möglichst nicht wehren kann.
       
       Eine erste Öffnung der Witzräume bietet etwa der [2][rheinische Karneval].
       Ich wette, Sigmund Freud hat nie eine „Prunksitzung“ mit Büttenreden in
       einer rheinischen Kleinstadt erlebt, sonst hätte sein Buch über den Witz
       ein paar Seiten mehr gebraucht. Hier nämlich müssen die Menschen, über die
       Witze gemacht werden, selbst am lautesten darüber lachen: Ehefrauen lachen
       über Ehefrauwitze, Schwiegermütter über Schwiegermutterwitze, Finanzbeamte
       über Finanzamtswitze und so weiter. Lachzwang und Humorkontrolle sind das
       eine, das andere Faszinosum besteht vielleicht darin, dass man in den
       geheimen Witzraum der jeweils anderen einbezogen ist. Kein Wunder, dass das
       Lachen hier gelegentlich recht hysterisch klingt.
       
       Das Zweite ist der Medienraum, vor allem das Fernsehen. Auch hier kann man
       ja keine reale Abwesenheit durch den Witz mehr konstruieren. Wenn das Volk
       im Fernsehen Witze über die Regierung macht, dann hört die Regierung mit,
       und umgekehrt. Und bei Witzen, die Männer über Frauen machen, sitzen die
       Frauen daneben. Im Internet dreht sich das noch einmal weiter. Hier werden
       Witze, wie man treffend sagt, „losgelassen“, wobei sowohl Absender als auch
       Adressat anonym bleiben. Auf die zwar fragwürdige demokratische
       Öffentlichkeit des Witzemachens folgt nun eine verschärfte Art der
       Abwertung. Witze, die eine kaum noch verhohlene Abwehr bis hin zur Mordlust
       transportieren.
       
       ## Lindners Altherren-Witz
       
       Wenn zum Beispiel die Zote eine Männer-Verständigung zur abwesenden Frau
       ist, dann ist sie vielleicht auch umgekehrt eine Konstruktion ihrer
       Abwesenheit oder ihres Ausschlusses. Nehmen wir also den „Altherren-Witz“
       von [3][Christian Lindner] (auch wenn ich mich als älterer Mann gegen diese
       Bezeichnung wehren muss: Weder machen alle alte Herren Altherren-Witze noch
       sind Altherren-Witze auf alte Herren beschränkt): Er richtet sich nicht
       allein an andere Männer und behandelt nicht eine abwesende Frau. Er richtet
       sich gegen eine Frau, der er gerade politisch übel mitgespielt und sie
       rituell entmachtet hatte.
       
       Er konstruiert eine konspirative Männlichkeit, die sich in doppeltem Sinn
       eine Frau als Opfer sucht. Wäre sein Witz nur in Bezug auf das Unbewusste
       „herausgerutscht“, so wäre ein schlichtes „Träum weiter, Bubi“ die
       angemessene Reaktion. Aber auch hier ist die Beziehung zum Bewusstsein viel
       spannender. Die Zote vollzieht den Ausschluss und die Abwertung der Frau,
       die vorher politisch vollzogen wurde, noch einmal auf einer tieferen Ebene.
       Aus der politischen Abwesenheit muss noch eine sexuelle Abwesenheit werden.
       Und jemand muss darüber lachen. Die Gruppe, wie gesagt.
       
       Der Witz stellt eine Beziehung zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein
       her, und zwar in beide Richtungen. Er ist daher immer auch als eine Waffe
       zu verstehen. Es geht also nicht allein darum, auf dem Weg zwischen
       Isarindianer und Altherrenauftritt den inneren Onkel Fritz zu bezähmen,
       sondern auch darum, den Diskurs von [4][Sexualität] und Politik in ihnen zu
       erkennen. Und bevor wieder jemand von Humorlosigkeit raunzt: Die meisten
       Witze sind das Humorloseste, was es auf Göttins weiter Erde gibt.
       
       9 Oct 2020
       
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