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       # taz.de -- No Wave aus Rio de Janeiro: Soundtrack des Postfaktischen
       
       > Der Carioca-Musiker Thiago Nassif fasst auf seinem neuen Album „Mente“
       > die politische Situation seiner Heimat Brasilien in vielschichtige Songs.
       
   IMG Bild: Auf der Suche nach seinem Publikum: Thiago Nassif
       
       Es gibt Orte, die bleiben für immer mit einer Musik verbunden – auch wenn
       die Zeit sie längst überholt haben mag. Wer denkt bei der brasilianischen
       Metropole Rio de Janeiro etwa nicht an Bossa Nova und Samba? Dabei ist in
       Rio – im Schatten seines ewigen Rivalen, der Industriestadt São Paulo –
       nach HipHop und dem populären Elektro-Stil Baile Funk aus den Favelas
       längst eine kleine, feine Szene entstanden, die sich experimentellem Pop
       verschrieben hat, Bands, die Noise und No Wave mit lokalen Stilen
       verbinden.
       
       Vorreiter war ein +2 genanntes Kollektiv: Domenico Lancellotti, Alexandre
       Kassin und [1][Moreno Veloso], Sohn Caetano Velosos, legten in den nuller
       Jahren drei Alben mit abenteuerlich-lustigen Popsongs vor, bei denen
       jeweils Kompositionen von einem der drei Künstler von allen zusammen
       eingespielt wurden. Dann eröffnete der „Audio Club“ im Stadtteil Botafogo
       2005 und stellte den unabhängigen Künstler*innen Rios jeden Donnerstag
       seine Bühne zur Verfügung.
       
       Der Club, der kaum mehr als einhundert Zuschauer fasst, sei im Laufe der
       Jahre zum „Mekka der experimentellen Musik“ Rios geworden, [2][bestätigt]
       Thiago Nassif. Der aus São Paulo stammende Musiker kam zwar erst 2015 in
       die „wunderbare Stadt“ am Zuckerhut, ist aber in kurzer Zeit zu einem der
       wichtigsten Akteure der Szene Rios geworden, die bei Konzerten Musik oft
       mit visuellen Künsten und Lyrik verbindet.
       
       Mit „Mente“ hat Nassif nun ein sperriges wie interessantes Album vorgelegt,
       das sich frei zwischen den Stilen bewegt. Zehn überwiegend auf
       Portugiesisch vorgetragene collagenhafte Songs, die mal nach No Wave und
       Post-Jazz klingen, dann aber auch wieder deutliche Einflüsse von Tropicália
       und Samba aufweisen. Songs, die wirken, als habe sich David Bowie in seiner
       Berlin-Phase mit dem brasilianischen Dada-Meister Tom Zé zusammengetan.
       
       Tatsächlich war es der in Brasilien aufgewachsene New Yorker
       No-Wave-Pionier, der Gitarrist [3][Arto Lindsay], der – wie bereits bei
       Nassifs Vorgängeralbum „Tres“ – als Koproduzent an „Mente“ mitwirkte. Mehr
       als Lindsays eigentümlich perkussives Gitarrenspiel, das in zwei Stücken zu
       hören ist, prägt das Album allerdings der fiepsend-scratchende Sound eines
       vom Multiinstrumentalisten Nassif bedienten Minimoog-Synthesizers.
       
       Immer wieder überrascht sein Album: Der Auftaktsong „Soar Estranho“ nimmt
       etwa erst in seiner zweiten Hälfte Fahrt auf und entwickelt sich mit einem
       rollenden Keyboard-Bass zu einem funky Popkracher à la Prince. In „Vóz
       Única Foto Sem Calçinha“ wiederum verbindet Nassif die liebliche Stimme der
       Singer/Songwriterin Ana Frango Elétrico mit dem Quietsche-Klang einer Cuíca
       aus dem Samba. Und im Finale des Albums, „Santa“, dekonstruiert er den
       Tamborzão-Rhythmus des Baile Funk und reduziert ihn auf sein Grundgerüst.
       
       Wie schon bei seinen ersten drei Alben hat sich Nassif für „Mente“ erneut
       illustre Gäste ins Studio geholt – neben Arto Lindsay zum Beispiel den
       gestandenen Jazzdrummer Vinicius Cantuária. Oder Donatinho, Sohn der
       Bossa-Nova-Legende João Donato, der auf „Trepa Trepa“ ein analoges
       Clavinet-Tasteninstrument spielt.
       
       Die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit seiner Musik spiegelt sich auch im
       Albumtitel: Der meint eigentlich „Geist“ oder „Verstand“, könnte aber auch
       vom Verb „lügen“ abgeleitet sein – ein bewusster Kommentar dazu, [4][sagt]
       Nassif, dass Brasilien unter dem rechtsgerichteten Präsidenten Jair
       Bolsonaro politisch in ein postfaktisches Zeitalter eingetreten sei. Nassif
       setzt dem ein Album mit mal nachdenklichen, mal eher schrillen und
       anstrengenden Tönen entgegen.
       
       Wer seine Musik hört, das weiß auch Thiago Nassif nicht so genau. „Mein
       Publikum ist immer noch die große Unbekannte“, hat er in einem Interview
       erklärt. Jedenfalls sei er im Ausland anerkannter als in seiner
       brasilianischen Heimat. „Vielleicht ja, weil meine Musik auf eine bestimmte
       Art universell ist.“
       
       8 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bossa-Pop-von-Moreno-Veloso/!5433661/
   DIR [2] https://daily.bandcamp.com/scene-report/experimental-jazz-rio-de-janeiro-scene-report%20
   DIR [3] http://Arto%20Lindsay
   DIR [4] https://jc.ne10.uol.com.br/cultura/musica/2020/07/11956085-thiago-nassif-faz-a-musica-de-um-nao-tao-admiravel-mundo-novo.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ole Schulz
       
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