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       # taz.de -- Neue Netflix-Serie „Ratched“: Bunt, aber monoton
       
       > Die Netflix-Serie „Ratched“ über eine sadistische Krankenschwester ist
       > bunt und queer. Leider dominieren die Psychiatrie-Klischees.
       
   IMG Bild: Alice Englert spielt Krankenschwester in der Serie „Ratched“
       
       Mildred Ratched ist bekannt als eines der größten Biester der
       Filmgeschichte. Selbst wer ihren Namen nicht kennt, erinnert sich
       vielleicht an die böse Krankenschwester aus „Einer flog über das
       Kuckucksnest“. An ihren kalten, starren Blick, das strenge weiße Häubchen,
       vielleicht sogar an den großen Schlüsselbund, den sie um ihren Arm trägt.
       Und an den Sadismus, mit dem sie Jack Nicholson und die anderen Patienten,
       alles Männer, im Zaum hielt.
       
       Dass sich nun [1][ausgerechnet Netflix] ihrer Vorgeschichte annimmt,
       verwundert nicht. Das Streaming-Unternehmen setzt mit Sequels und Prequels
       (zuletzt „Der junge Wallander“), mit Remakes (demnächst „Rebecca“) und
       Franchise-Fortsetzungen (demnächst „Resident Evil“) mit zuverlässiger
       Regelmäßigkeit auf bereits etabliertes Material.
       
       In den meisten Fällen erweisen sich solche Projekte als liebloser Versuch,
       mehr Abonnent*innen zu generieren. Da sich [2][Serien-Mastermind Ryan
       Murphy] aber des Stoffes annahm, war schon anzunehmen, dass „Ratched“ weder
       eine Produktion von der Stange werden noch dass seine Protagonistin auf das
       misogyne Stereotyp der Hure oder eben des Biests reduziert bleiben würde.
       
       Und tatsächlich ist Mildred Ratched (Sarah Paulson), die das Prequel
       fünfzehn Jahre vor der Handlung der Vorlage zeigt, nicht nur manipulativ,
       herrisch und skrupellos, sondern auch empfindsam, liebevoll und couragiert.
       
       Gerade im nordkalifornischen Lucia angekommen, erschleicht sie sich 1947
       eine Stelle als Krankenschwester in einer psychiatrischen Anstalt. Kurz
       zuvor wurde der junge Edmund (Finn Wittrock) dort eingeliefert, nachdem er
       mehrere Priester massakriert hatte.
       
       ## Von kaltblütig bis edelmütig
       
       Offensichtlich hat Ratched ein Interesse daran, auf die Beurteilung seines
       Geisteszustandes, die über seine mögliche Hinrichtung entscheidet, Einfluss
       zu nehmen. Ein Interesse, das so groß ist, dass sie bereit ist, dafür
       reuelos Patienten in den Selbstmord zu treiben oder in Eigenregie
       Lobotomien durchzuführen.
       
       Während der Leiter der Anstalt, Dr. Hanover (Jon Jon Briones), wegen
       pikanter Geheimnisse aus seiner Vergangenheit bald in ihre Abhängigkeit
       gerät, schwingt sich Oberschwester Betsy Bucket (Judy Davis) zur
       Antagonistin auf.
       
       Die Kaltblütigkeit, die sie auch ihnen gegenüber an den Tag legt, wechselt
       sich wild mit edelmütiger Fürsorge gegenüber einem schüchternen Kollegen
       (Charlie Carver) und einigen Patientinnen ab, die sie vor der qualvollen
       Hydrotherapie retten möchte. Ihr Verhalten ändert sich kontinuierlich, ohne
       zufriedenstellende Erklärung. An dieser Widersprüchlichkeit der Hauptfigur
       krankt die gesamte Serie.
       
       Der Mangel an Stringenz hat mit der Unentschlossenheit von „Ratched“ zutun.
       Die Serie kann sich nie zwischen dem absoluten Gewaltexzess, der kurioseren
       [3][Darstellung psychischer Krankheit] und überzeichneter Figuren
       einerseits und dem Versuch einer halbwegs realistischen Darstellung
       psychiatrischer Einrichtungen und lebensnaher Charaktere entscheiden.
       
       Wahrscheinlich wäre „Ratched“ ohne den Zwang, anschlussfähig zu sein, eine
       bessere Serie geworden. Vielleicht wäre dann die bewährte Murphy-Trias
       eines Figurenkabinetts aus Weirdos, Creeps und sonstigen Außenseiter*innen,
       einer atemberaubenden visuellen Pracht und einem herrlich diversen Cast –
       wie bei „American Horror Story“ oder zuletzt „Hollywood“ – aufgegangen.
       
       ## Mehr Kuriositätenschau als authentisches Chaos
       
       All das bringt auch „Ratched“ mit: Judy Davis schließt sich mit Freundin
       Amanda Plummer zusammen, um gegen Ratched zu taktieren, Sharon Stone darf
       als rachsüchtige Millionärswitwe mit Äffchen auf der Schulter auflaufen und
       Sarah Paulson wird eine lesbische Liaison mit der großartig-dandyhaften
       Cynthia Nixon zugestanden.
       
       Alles Frauen, die in Hollywood wegen ihres Alters in der Regel nur noch
       wenige bis keine Angebote erwarten, dürfen vor bestechend ästhetischer
       Kulisse in queere Rollen schlüpfen. Während sich das dekadente Spektakel
       sonst zu einem stimmigen Gesamtkonzept mit einer gewissen Aussage über den
       Zeitgeists zusammenfügt, bleibt der Plot bis zum Schluss ein loses
       Nebeneinander von Schönheit und Schrecken. Das hat vor dem Setting der
       psychiatrischen Anstalt einen unangenehmen Beigeschmack von
       Kuriositätenschau.
       
       „Ratched“ ist im Rahmen des fünfjährigen, 300 Millionen Dollar schweren
       Deals zwischen dem Streaming-Giganten und dem Regisseur Ryan Murphy
       entstanden, aus dem allein 2020 nicht weniger als sieben Produktionen
       hervorgehen.
       
       Bleibt zu hoffen, dass nicht ausgerechnet eine der innovativsten queeren
       Regie-, Autoren-, und Produzenten-Ikonen gerade auf Fließbandarbeit
       umsteigt.
       
       24 Sep 2020
       
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