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       # taz.de -- Vergabe des Berliner Stromnetzes: Land verliert erneut vor Gericht
       
       > Das Land Berlin will auch das Stromnetz rekommunalisieren. Dagegen klagte
       > eine Vattenfalltochter – und gewinnt auch in zweiter Instanz.
       
   IMG Bild: Lebensgefahr herrschte nicht, aber Spannung lag durchaus im Saal 449 beim Strom-Gerichtsverfahren
       
       Berlin taz | Die Hoffnung des rot-rot-grünen Senats war vergebens. Das Land
       Berlin darf das Stromnetz der Stadt weiterhin nicht verstaatlichen. Das
       Berliner Kammergericht hat am Donnerstag [1][die Berufung des Landes
       abgewiesen] und ihm vorerst untersagt, die Konzession für den Netzbetrieb
       an das Landesunternehmen Berlin Energie zu vergeben. Zuvor hatten Vertreter
       der Landesregierung intern die deutliche Hoffnung geäußert, dass sich das
       Gericht anders entscheiden würde.
       
       Tatsächlich sah viel danach aus. Die Verhandlung im Saal 449 des
       Kammergerichts in Schöneberg am Donnerstag ist kaum eine halbe Stunde alt,
       da scheint die Sache gelaufen und der Weg frei für einen staatlichen
       Stromnetzbetreiber anstelle der Vattenfall-Tochter Stromnetz Berlin GmbH.
       In einer vorläufigen Einschätzung der Lage zeigt sich der Chef auf der
       dreiköpfigen Richterbank, der Vorsitzende Richter Norbert Vossler, von kaum
       einem Punkte überzeugt, die das Landgericht im November an der
       Stromnetzvergabe im Frühjahr 2019 kritisiert hatte. Allein nicht
       ausreichender Akteneinsicht schließt er sich an.
       
       Die Richter der unteren Instanz hatten die vom Senat beschlossene Vergabe
       an den landeseigenen Betrieb Berlin Energie gestoppt. Sie bezweifelten vor
       allem die Eignung zum Netzbetrieb und die Neutralität bei der Entscheidung.
       Die Politik der Rekommunalisierung – also die Verstaatlichung der
       Daseinsvorsorge – war damit im Energiesektor vorläufig blockiert.
       
       Das aber mag der Vorsitzende im Kammergericht in besagter Einführung in die
       Verhandlung nicht sehen. Von einem Bewerber in einem sich inzwischen über
       Jahre hinziehenden Verfahren – die Ausschreibung begann 2011, 2014 lief die
       umstrittene Betreiberkonzession eigentlich aus – kann man nach seiner
       Einschätzung nicht erwarten, dass er von Anfang an hunderte Mitarbeiter
       bereit hält, die im Falle eines Zuschlags vom bisherigen Netzbetreiber die
       Arbeit übernehmen. „Inhaltlich überzeugen uns die Rügen nicht“, betont
       Richter Vossler.
       
       Berlin Energie, die bei der Senatsverwaltung für Wirtschaft angesiedelt
       ist, hat derzeit nur sieben Mitarbeiter, die Stromnetz Berlin GmbH als
       jetziger Betreiber knapp 1.300. „Das kann aber nicht dazu führen, dass der
       Zuschlag [für Berlin Energie, d. Red.] nicht erteilt werden kann.“ Da müsse
       man eher großzügig sein.
       
       ## Kleinteilige Analyse
       
       Doch in dem Moment, da die Vertreter und Unterstützer von Berlin Energie im
       Saal geneigt gewesen sein könnten, sich entspannt zurück zu lehnen, geht
       das Gericht ins Kleinteilige – und hinterfragt die Bewertung, die zur
       Vergabeentscheidung führte. Grundlage dafür war ein zuvor schon gleichfalls
       gerichtlich umstrittener Kriterienkatalog, nach dem Berlin Energie
       schließlich mit 14.590 Punkten rund 1.000 Punkte vor der Vattenfall-Tochter
       mit 13.530 lag.
       
       An einer Stelle sieht Richter Vossler keine plausible Bewertung, an der
       nächsten eine nicht nachvollziehbare Benachteiligung des
       Vattenfall-Betriebs. Es gleicht diversen Stellen in den
       Harry-Potter-Romanen mit Belobigungen für unterschiedliche Häuser in der
       Zaubererschule Hogwarts – „50 Punkte Abzug für Gryffindor“ oder „20 Punkte
       für Slytherin“. Erst sind es nur zehn Punkte weniger hier, dann 20 dort,
       bis immer mehr und mehr hinzu kommen und der Überlick fast verloren geht.
       
       Bei Vattenfall-Anwalt Christian von Hammerstein, Partner in der Kanzlei von
       Kunstmäzen Peter Raue, ist das offenbar anders: Er will mitgerechnet haben,
       dass da gut 1.200 Punkte zugunsten von Vattenfall zusammen kommen – also
       deutlich mehr, als das Unternehmen nach Bewertung durch die Vergabekammer
       hinter Berlin Energie lag.
       
       Auch wenn von Hammerstein sich verrechnet haben sollte: Der Vorsitzende
       Richter Vossler macht gleich klar, dass das Urteil sich nicht allein an der
       Mathematik orientieren soll. Wenn am Ende der Betrachtung durch das Gericht
       Berlin Energie noch 100 Punkte vorne läge, rechtfertigt das für ihn nicht,
       den Zuschlag für den Landesbetrieb zu bekräftigen.
       
       Die Vertreter beider Seiten mühen sich danach, die dreiköpfige
       Gerichtskammer, die bei einem Oberlandesgericht wie die Berliner
       Landesregierung Senat heißt, jeweils vom Gegenteil zu überzeugen. Die
       Anwältin des Landes Berlin verteidigt die Bewertungen durch die
       Vergabekammer. Von Hammerstein und ein Kollege attackieren die Eignung von
       Berlin Energie: Aus ihrer Sicht wegen ihrer (noch) fehlenden
       Mitarbeiterschaft sei das nur eine „Strohmannbewerbung“.
       
       Es ist aus ihrer Sicht völlig offen, ob bei einer Entscheidung gegen
       Vattenfall als jetzigen Betreiber außer den Leitungen und Kabeln auch die
       komplette IT-Ausstattung an das Landesunternehmen übergehen müsste. So
       etwas aber selbst aus dem Nichts aufzubauen, würde angeblich zweieininhalb
       bis fünf Jahre in Anspruch nehmen. Von Hammerstein verweist auf die
       IT-Probleme des Kammergerichts selbst – und ätzt sinngemäß, nun wolle man
       genau diesem Land Berlin anvertrauen, das Stromnetz zu betreiben.
       
       ## Diesmal schnelle Entscheidung
       
       Vier Stunden verhandelt das Gericht non-stop bis zu einer ersten Pause.
       Dabei bleibt anfangs offen, ob es an diesem Tag noch zu einem Urteil kommt.
       Als das Landgericht im vergangenen Herbst verhandelte, lagen drei Wochen
       zwischen dem Termin im Gerichtssaal und der Urteilsverkündung.
       
       Doch an diesem Donnerstag geht es schneller. Am späteren Nachmittag
       bestätigt das Gericht die Entscheidung des Landgerichts vom November. Als
       Gründe nennt das Gericht, dass die unterlegene Bieterin, also die
       Vattenfall-Tochter Stromnetz Berlin, nicht ausreichend Akteneinsicht
       bekommen habe. Zudem soll es bei der Auswertung der Gebote zu
       Bewertungsfehlern gekommen sein – so wie es der Vorsitzende Richter Vossler
       schon am Vormittag andeutete.
       
       Von einem „schweren Schlag für die Energiewende“, sprach Stefan Taschner,
       Sprecher für Energie der Grünen-Fraktion „Am Ziel, das Stromnetz zurück in
       Berliner Hand zu holen, halten wir Grüne dennoch fest.“
       
       Wie es nun weiter geht mit der Vergabe des Stromnetzes, ist offen. Die
       Genossenschaft Bürger Energie, die auf einer Beteiligung bei Berlin Energie
       hoffe, ging jüngst davon aus, dass es nun Gespräche zwischen dem Land und
       Vattenfall gibt. Für die Verbraucher ändert sich weiterhin gar nichts.
       (Aktenzeichen 16 O 259/19 Kart.)
       
       24 Sep 2020
       
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   DIR [1] /Gericht-entscheidet-ueber-Energienetz/!5711631
       
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   DIR Stefan Alberti
       
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