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       # taz.de -- 30 Jahre Einheit in Oberschwaben: Trommeln für alle!
       
       > In Oberschwaben werden Frauen von Festtraditionen ausgeschlossen. Ein
       > Zustand, der nicht mehr einfach so hingenommen wird.
       
   IMG Bild: Als Besonderheit gelten die Trommlergruppen
       
       Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen ist oft
       unsichtbar – weil sie auf Gehaltslisten oder hinter verschlossenen
       Wohnungstüren stattfindet. In Oberschwaben wird sie aber jedes Jahr zu
       hohen Festtagen mit Stolz auf die Straße getragen. Die Traditionen, von
       denen Frauen ausgeschlossen sind, geraten jetzt aber zunehmend unter
       Reformdruck. Zum Unverständnis all jener, die Tradition für ein Argument
       gegen Gleichberechtigung halten.
       
       Zum Ende des Schuljahres feiert die Stadt Ravensburg, eine halbe Autostunde
       vom Bodensee entfernt und bekannt für den Spieleverlag mit der blauen Ecke
       als Markenzeichen, mindestens seit dem 17. Jahrhundert ihr Rutenfest.
       Höhepunkt ist ein Festzug durch die mittelalterliche Altstadt. Die Kinder
       tragen Kostüme, die die einstigen Handwerkszünfte darstellen.
       
       Auch an die Historie der freien Reichsstadt wird erinnert, die Heimat
       reicher Patrizierfamilien und einer Handelsgesellschaft, die früh
       international Geschäfte machte. Als Besonderheit gelten die
       Trommlergruppen, die den Festzug begleiten und auch bei vielen privaten
       Feiern „antrommeln“.
       
       Trommlerkorps der Gymnasien, Landsknechte, Schützentrommler. So heißen die
       traditionsreichen Gruppen. Vorbehalten sind sie jungen Männern. Beim
       Trommlerkorps der Gymnasien, das 1865 das erste Mal erwähnt wurde, werden
       jährlich 24 von 34 Trommlern neu gewählt – ausschließlich von ihren
       männlichen Mitschülern der oberen Jahrgangsstufen. Auch die Gruppenleiter
       werden durch eine Wahl für die prestigeversprechende Aufgabe bestimmt.
       Mädchen dürfen nicht mittrommeln, sie können darauf warten, ob einer der
       Trommler sie als „Trommlerbraut“ aussucht, die ihn durch die Festtage
       begleiten darf, während die ganze Stadt ihre „Buben“ feiert. Nur eine
       einzige Gruppe, die Rutentrommler, lässt Mädchen zu.
       
       Im Sommer 2019 meldeten sich zwei ehemalige Mitglieder der Landsknechte,
       deren Gruppe mit Renaissance-Kostümen als Trommler, Pfeifer und
       Armbrustschützen gekleidet ist, über die Lokalzeitung zu Wort: Mit dem
       Abstand zu ihrer Heimatstadt, den sie durchs Studium an anderen Orten
       gewonnen hatten, kritisierten sie die exklusiv männliche Tradition und
       traten eine Welle der Entrüstung los. Die beiden jungen Männer bezeichneten
       die Trommlergruppen als „Seilschaften“ und „elitäre Verbindungen, die
       Frauen diskriminieren“. Dabei seien das doch schulische Veranstaltungen
       (was der damals geschäftsführende Schulleiter wiederum zurückwies), bei
       denen niemand wegen seines Geschlechts ausgeschlossen werden dürfe. „Es
       käme jetzt auch keiner auf die Idee zu sagen, Mädchen dürfen nicht in den
       Matheunterricht“, sagte einer der beiden Kritiker.
       
       Für ihre Forderung, mit der Tradition zu brechen, sei ihnen in einer
       Ravensburger Altstadtkneipe mit Prügel gedroht worden, so wurde es ihnen
       berichtet – befreundete Trommler hätten ihnen daraufhin Schutz und beim
       Fest ihr wachsames Auge angeboten. Die Traditionalist*innen beschimpften
       sie als Verräter und Profilneurotiker. Lokalpolitiker*innen hätten ihnen zu
       verstehen gegeben, dass sie sich nicht um das Thema kümmern wollten, an dem
       man sich so leicht die Finger verbrennen kann.
       
       Der Konflikt spielt an einer gesellschaftlichen Bruchlinie, die sich nicht
       nur durch Oberschwaben zieht. Wie schafft es eine Gesellschaft,
       identitätsstiftende Momente zu schaffen, die alle einschließen? Im Jahr
       2020 sollte es dabei längst nicht mehr nur um die Beteiligungsmöglichkeit
       für Frauen gehen, sondern um die größtmögliche Offenheit für alle,
       unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion, sexueller
       Identität und Behinderung. Doch manchmal scheint es, als ob an
       Althergebrachtem noch verbissener festgehalten wird, je mehr sich
       gesellschaftlich bewegt. Als ob die Traditionalist*innen hofften, die
       Forderungen nach Gleichberechtigung würden wieder verschwinden, wenn sie
       sie nur lange genug ignorierten.
       
       Das Rutenfest ist für viele Ravensburger*innen Anlass zur Heimkehr, selbst
       wenn sie inzwischen in Übersee leben. Das Fest – eine Konstante in jedem
       Jahr, egal, was in der Welt außerhalb Oberschwabens los ist. Und das schon
       seit Generationen. Ein ehemaliger Landsknecht berichtete von vehementer
       Ablehnung einer Öffnung besonders bei älteren Männern und einigen
       Mitgliedern der Trommlergruppen. Für sie ende die Diskussion mit dem Satz
       „Das ist Tradition“, als sei das ein Argument. Andere zeigten sich
       gesprächsbereit, sagt er: „Plötzlich kam von unterschiedlichen Seiten die
       Idee, doch eine eigene Trommlergruppe für Mädchen zu gründen. Damit wollen
       wohl einige das leidige Thema vom Tisch bekommen.“
       
       In Ravensburg prallt Lokaltradition auf gesellschaftliche Modernisierung.
       Für zeitgemäße Weiterentwicklung muss die Kontinuität des Festes keineswegs
       gebrochen werden. Wenn sich dessen Wert allein darauf gründet, dass Frauen
       ausgeschlossen werden, wäre das nach Jahrhunderten des Rutenfests ein
       schwaches Fundament. Und wer die Veränderung jetzt vorantreibt, schreibt
       Stadtgeschichte weiter, die irgendwann etwas über die gesellschaftlichen
       Debatten in den 2020er-Jahren erzählen wird.
       
       Tradition und Veränderung scheinen in den Augen einiger Ravensburger
       natürliche Gegenspieler zu sein. Veränderung ist nicht Gefahr, sondern
       Chance und manchmal auch Pflicht, wenn der Status quo destruktive
       Botschaften für junge Menschen enthält. Den Mädchen werde an verschiedener
       Stelle beim Rutenfest signalisiert: „Ihr dürft zwar mitmachen, aber ihr
       seid weniger wert“, sagt die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt
       Ravensburg, Eva-Maria Komprecht. Das nähmen die Mädchen durchaus wahr. Und
       als „Trommlerbräute“ würde ihnen lediglich eine dienende und schmückende
       Funktion zugebilligt.
       
       Eine Öffnung der Trommlertradition für Mädchen wird vom Festveranstalter,
       der Rutenfestkommission, abgelehnt. „Gruppierungen, die sich zum Teil auf
       eine mehr als 100 Jahre andauernde Tradition berufen können, praktisch
       zwingen zu wollen Frauen aufzunehmen, verbietet sich von selbst und ist
       insbesondere in keiner Weise vom Grundgesetz gefordert“, heißt es in einer
       Stellungnahme des Vorsitzenden Anfang 2020.
       
       Der schlug außerdem vor, Mädchen könnten „selbstverständlich jederzeit ein
       eigenes Trommlerkorps gründen“, sollte dies „wider Erwarten“ gewünscht
       werden. So wird die Verantwortung abgeschoben. Eine Gymnasiastin, die das
       vor zehn Jahren versuchte, berichtet von Mobbing, Ausgrenzung und Abkehr
       ihrer Freundinnen, die mit der Tradition aufgewachsen waren. Die
       Gleichstellungsbeauftragte fordert nun, dass der Wandel von Erwachsenen
       angestoßen werden müsse. Das war im Januar 2020. Wann dieser Anstoß wohl
       kommt und wer sich wagt, ihn zu geben?
       
       Dass Tradition keine Rechtfertigung für ewigen Stillstand ist, haben
       kürzlich ausgewiesene Expert*innen deutlich gemacht, nachdem sich
       Ravensburgs Nachbarstadt Weingarten ebenfalls mit einer ausschließlich
       Männern vorbehaltenen Veranstaltung für den Titel des Immateriellen
       Kulturerbes der Unesco beworben hat. Zu diesem Kulturerbe zählen etwa der
       saisonale Viehwandertrieb im Mittelmeerraum und in den Alpen, die
       Parfümherstellung im französischen Pays de Grasse oder die Reggae-Musik von
       Jamaika.
       
       Den Weingartenern geht es um den Blutritt, Europas wohl größte
       Reiterprozession, bei der eine Reliquie – angeblich ein Tropfen Blut von
       Jesus mit Erde vermischt – von einem Geistlichen, dem Dekan der Stadt,
       durch die Flur getragen wird, begleitet von mehr als 2.000 männlichen
       Reitern. Einst kamen zu diesem Anlass am Freitag nach Christi Himmelfahrt
       Bauern aus dem Umland mit ihren Pferden nach Weingarten, um für eine reiche
       Ernte und gesunde Tiere zu beten. Doch längst wird der Blutritt von einem
       Verein organisiert, der Frauen in seinen Reihen zulässt. Aber mitreiten
       dürfen sie nicht. Obwohl der Nachwuchs fehlt und die Teilnehmerzahlen
       sinken.
       
       In Weingarten war man aufgrund diverser Vorgespräche und
       Empfehlungsschreiben von Historikern davon ausgegangen, gute Chancen auf
       den Kulturerbetitel zu haben, die Stadt erhoffte sich schon, die
       Auszeichnung für ihr Stadtmarketing nutzen zu können. Doch dann kam die
       Absage, deren Begründung viele überzeugte Blutreiter vor den Kopf gestoßen
       haben dürfte.
       
       Das Expertenkomitee für Immaterielles Kulturerbe der Deutschen
       Unesco-Kommission und die Kultusministerkonferenz schrieben, bei der
       Prüfung solcher Bewerbungen werde Wert auf eine offene, inklusive und
       partizipative Traditionspflege sowie auf Wandlungs- und
       Weiterentwicklungsfähigkeit gelegt. Die Experten „konnten (…) nicht
       ausmachen, warum Frauen auch heutzutage prinzipiell von dem Ritt
       ausgeschlossen bleiben“.
       
       Jenseits der schwäbisch-bayerischen Grenze landete ein Fall, in dem es um
       traditionell begründete Ungleichbehandlung geht, schon vor Gericht.
       Jahrhundertelang war das Ausfischen des Stadtbaches am Memminger Fischertag
       Männern vorbehalten, das sollte nach dem Willen des ausrichtenden Vereins
       auch so bleiben.
       
       Eine Tierärztin fühlte sich diskriminiert und klagte, das örtliche
       Amtsgericht gab ihr recht: Tradition sei kein zulässiger Grund für
       Diskriminierung, urteilte die Richterin. Der Verein sei – auch wegen seiner
       Machtstellung in der Stadt – an den Gleichheitsgrundsatz gebunden. Der
       Veranstalter hatte angekündigt, das Urteil in nächster Instanz überprüfen
       zu lassen. Beim Landgericht Memmingen ist die Berufung noch nicht
       eingegangen, der Verein scheint noch zu erwägen, ob er den Schritt gehen
       soll.
       
       In diesem Jahr mussten wegen Corona Fischertag, Blutritt und Rutenfest in
       ihrer bisherigen Form ausfallen – zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Ein
       Sommer, in dem – auch in Oberschwaben – mal nicht alles so war wie immer.
       
       3 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lena Müssigmann
       
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