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       # taz.de -- 30 Jahre Einheit in Hildesheim: Bis zur Unkenntlichkeit normal?
       
       > Mit 16 Jahren kam unsere Autorin 1990 aus der DDR nach Hildesheim. Später
       > rieten ihr manche, wegzugehen, aber sie blieb – und hat das nicht bereut.
       
       Hildesheim taz | Ach, Verzeihung. Für den 30. Jahrestag der
       Wiedervereinigung hat Hildesheim nicht viel Aufmerksamkeit übrig. Die
       kleine Stadt im Süden Niedersachsens schaut derzeit lieber in die Zukunft.
       Am 28. Oktober fällt in Berlin die Entscheidung darüber, [1][wen
       Deutschland als europäische Kulturhauptstadt 2025 nominiert]: Chemnitz,
       Hannover, [2][Magdeburg], Nürnberg – oder eben Hildesheim. Und da wird bis
       zur letzten Minute konzipiert und gewienert, da wird ein
       „Kulturhauptstadtbier“ gebraut, die ultimative Frisur 2025 gesucht und
       schnell nochmal der Dom ausgefegt. Zum Feiern bleibt da keine Zeit.
       
       Dabei ist dem europäischen Gedanken des Grenzenüberwindens der
       deutsch-deutsche ja immer schon eingeschrieben, im „kleinen Grenzverkehr“ –
       eine Regelung, die Westbürgern bereits seit 1972 Tagesausflüge in den
       Sozialismus erlaubte und der DDR Devisen einbrachte. Mal Ostluft
       schnuppern, mal an echte Plattenbau-Wände klopfen, mal in einer
       volkseigenen Speisegaststätte ein Jägerschnitzel bestellen und dann
       staunen, dass damit eine panierte Wurstscheibe gemeint ist, serviert an
       Spaghetti mit Tomatensauce.
       
       Die Grenze zur DDR verlief 70 Kilometer Luftlinie von Hildesheim entfernt.
       Nach dem Mauerfall war die Nähe besonders praktisch: Aus ein paar
       Hildesheimern wurden quasi über Nacht Landbesitzer in Brandenburg, in
       Mecklenburg, und auf ihren Konten trudeln bis heute EU-Agrarbeihilfen ein.
       Doch auch die Gegenbesuche begannen. Nun standen die Trabis Schlange,
       tagsüber vor Hildesheims Supermärkten, abends vor dem Jazzclub, vor den
       Bars.
       
       Auch ich kam nach Hildesheim, im Herbst 1990, mit 16 Jahren, nach der
       Ausreise meiner Familie aus der DDR anderthalb Jahre zuvor. Nach einer
       Odyssee durch halb Norddeutschland, durch Aufnahmelager, provisorische
       Unterkünfte, Sozialwohnungen. Von nun an besuchte ich das einzige
       Gymnasium der Stadt, das Russisch bis zum Abitur anbot. So wie alle, die
       damals aus dem Osten kamen und bislang weder mit Französisch noch Latein
       oder Spanisch in Berührung gekommen waren.
       
       ## Die falsche Pullovermarke
       
       Die Russisch-Klasse war nach außen unser Erkennungszeichen und nach innen
       unser Zuhause: Hier sprachen wir unsere eigene Sprache. Wir wussten nicht,
       was unsere westdeutschen Mitschüler meinten, wenn sie sagten, uns würde man
       unsere Herkunft sofort ansehen, wir liefen so „ossimäßig“ herum. Irgendwann
       ahnten wir, mehr als dass wir es wussten: Der Identität, die wir uns in
       Wirklichkeit schaffen wollten, kann die falsche Pullovermarke gar nichts
       anhaben.
       
       Ich wollte Journalistin werden, ging zur Schülerzeitung und schrieb meine
       erste Geschichte über verfallende Hochhäuser in Magdeburg, von denen nach
       der Wende keiner so genau wusste, wem sie eigentlich gehörten. Dass ich
       „ganz zufällig“ auf das Thema gestoßen sei, erzählte ich in der Redaktion,
       wahrscheinlich aber hat es mich damals nicht zufällig in den Osten
       zurückgezogen, dahin, wo ich wusste, wovon ich sprach. Ich fühlte: Es war
       wichtig, irgendwohin zu gehören, in eine Gruppe, eine Klasse, eine Stadt,
       eine Moderichtung – selbst wenn diese Gruppe, Klasse, Stadt oder
       Moderichtung das Uncoolste auf der ganzen Welt war. Lieber uncool als
       völlig verloren.
       
       Und Hildesheim – Knotenpunkt der Langeweile, Herz der Ereignislosigkeit –
       schien dafür die perfekte Kulisse zu sein: „Die Zeiten, in denen unsere
       Stadt eine wichtige Kulturmetropole war, sind seit vielen Jahrhunderten
       vorbei“, heißt es in der Hildesheimer Bewerbung um den Titel der
       Kulturhauptstadt. „Heute sind wir ziemlich durchschnittlich. Und manchmal
       scheint es, dass wir bis zur Unkenntlichkeit normal sind.“ 100.000
       Einwohner, Uni, Theater für Niedersachsen, tausendjähriger Rosenstock, drum
       herum: Felder, auf denen Rüben wachsen. Daher der Titel der Bewerbung:
       „Rosen, Rüben und der Sinn des Lebens“.
       
       Dass Mariendom und Michaeliskirche zum Unesco-Weltkulturerbe zählen, darauf
       ist man in der Stadt zwar durchaus stolz: schon toll, aber auch etwas
       angestaubt – sie sind kein Produkt, kein Phänomen, kein Verdienst unserer
       Zeit. Da wird lieber erwähnt, dass Hollywood-Schauspielerin [3][Diane
       Kruger] aus Hildesheim kommt. Die ist wenigstens nicht bis zur
       Unkenntlichkeit normal.
       
       ## „Geh raus, geh weg!“
       
       „Bleib bloß nicht in dieser Stadt“, warnte mein Lieblingsprofessor an
       Hildesheims berühmter Schreibschule, an der ich Literatur und
       Kulturjournalismus studierte. „Du bist nicht hier, um anschließend über
       Kaninchenzüchter zu schreiben. Kein Local Hero werden, hörst du! Geh raus,
       geh weg, geh nach Berlin, geh nach Leipzig, geh sonst wohin.“ Nur bleiben,
       das war in seinen Augen die schlechteste, die eigentlich undenkbare Option.
       
       In meinen nicht. Ich mochte die Redaktion der Lokalzeitung, für die ich
       nebenher frei arbeitete, ich mochte den Lokaljournalismus. Die kleinen
       Geschichten, die ich von Sportplätzen holte, aus Kiosken, vom Weinfest, aus
       dem Stadtarchiv, aus Kirchen, aus dem kleinen Jazzclub mit maximal 170
       Besuchern, aus Angel- und, ja, Kaninchenzüchtervereinen. Vieles, was ich
       sah und erlebte, fand ich schräg, aber irgendwie auch gut:
       Taubenwettbewerbe. Ortsratssitzungen. Tombolas. Handgeschriebene
       Leserbriefe. Und die Tatsache, dass ich diese Leser meistens kannte,
       persönlich, zumindest aber ihrer Funktion oder dem Namen nach. Ich sah
       überhaupt nicht ein, warum ihre Geschichten weniger bedeutsam sein sollten
       als die der Leute aus den Metropolen.
       
       Im Gegenteil: Durch sie habe ich Hildesheim erst richtig kennengelernt.
       Durch Tülay, die resolute Wirtin der Bahnhofskneipe, mit der sich selbst
       der Betrunkenste morgens um drei nicht anzulegen wagt. Durch Georgios, den
       ältesten Griechen der Stadt. Durch Maria, die Kellnerin, die eigentlich aus
       New York kommt. Durch Werner, den Tierpfleger des Wildgatters, der seit
       mehr als 30 Jahren Schweine und Rehe hütet und Generationen von
       Schulklassen durch die Gehege geführt hat. Sie machen diese Stadt aus, sie
       sind es eigentlich, die ihre Geschichten schreiben, wir von der Zeitung
       erzählen sie nur weiter.
       
       Und jetzt, zack, kommt der Trick: Nimmt man sie nämlich ernst, diese
       Geschichten, diese Menschen, verwandelt sich Hildesheim plötzlich. In einen
       Ort, an dem cool oder uncool gar kein Kriterium mehr ist, bloß noch das
       mögliche Ergebnis einer Betrachtung durch Außenstehende, einer Bewertung
       nach zählbaren, kleinkarierten Maßstäben. Es verwandelt sich in ein
       Zuhause.
       
       ## Eine Stadt, die an sich arbeitet
       
       Das nun dennoch als Kulturhauptstadt wahrgenommen werden will. Von anderen
       Städten, von Deutschland, von ganz Europa. Das an sich arbeitet. Was war
       und ist, soll neu gedacht werden. Trug bislang schon die Lage der Stadt im
       ehemaligen Zonenrandgebiet etwas Bezeichnendes in sich, nämlich den Stempel
       der ostnahen, etwas behäbigen Provinz, die man besser heute als morgen
       verlässt, dreht Hildesheim nun den Spieß versuchsweise um. Und fragt:
       Zentrum und Peripherie – sind das zukünftig überhaupt noch die richtigen
       Kategorien, wenn wir über unser Zusammenleben nachdenken?
       
       Die Stadt bewirbt sich nicht als Stadt, sondern als Region. „Hier sind
       Dinge möglich, die in der Metropole unmöglich sind“, heißt es da. „Die
       kurzen Wege, die direkten Verbindungen, die überschaubare Größe, die
       Fähigkeit zur Mobilisierung, die kollektive Wachsamkeit, der Raum für
       Experimente, die Freiheit für etwas Neues.“
       
       Identität ist, was aus diesen Komponenten neu entstehen soll. Identität
       muss geschaffen werden. Das gilt für Menschen, Städte, Länder, für die
       Provinz wie für die Metropolen Europas, für Osten wie Westen – na gut, für
       den Osten sogar noch ein bisschen mehr. Als Zeit Online im Februar
       vergangenen Jahres unter dem Titel [4][„Fünf für Europa“] die ostdeutschen
       Bewerberstädte vorstellte, da nannten sie diese „Orte aus den neuen
       Ländern“. Im Jahr 29 nach der Wiedervereinigung!
       
       Dass es in den Konzepten dieser Städte um Selbstbehauptung und um das
       Bewusstsein für die eigene Geschichte angesichts des gesellschaftlichen
       Risses geht, liegt dank solcher Teilungsvokabeln auf der Hand: Die Ossis
       sind halt immer noch Ossis – aber nicht, weil sie nach wie vor die falschen
       Pullover anhätten, sondern weil sie im Selbstverständnis Deutschlands immer
       noch auf der grau schraffierten Fläche zwischen Ostsee, Niedersachsen und
       Tschechien zu Hause sind, da, wo die Uncoolen wohnen. Da, wo ein
       Arbeitnehmer im Schnitt immer noch 490 Euro brutto pro Monat weniger
       verdient als sein Kollege im Westen. Da, wo die Frage nach der Identität
       mit dem Blick in die Lohntüte zwangsläufig lauten muss: Bin ich weniger
       wert?
       
       ## Fließend Westdeutsch sprechen
       
       Da, wo ich vor 30 Jahren herkam. Und während ich Westdeutsch inzwischen
       fließend spreche – Führerschein sage statt Fahrerlaubnis, Astro- statt
       Kosmonaut –, hat sich mein Russisch ins Rudimentäre verflüchtigt. Die
       meisten Wörter habe ich vergessen, weil ich sie nie mehr brauchte. Nicht
       vergessen habe ich allerdings, dass Pullover weich und warm zu sein haben.
       Und weiter gar nichts.
       
       Wie’s aussieht, feiere ich am 3. Oktober hier eher allein. Und ob es am 28.
       in Hildesheim etwas zu feiern gibt – man wird sehen. Wenn ja, wird sich
       wohl einen Moment lang Ungläubigkeit in den Jubel mischen: Wir? Ernsthaft?
       
       Gewinnt Hildesheim, wird die Nacht lang. Und was, wenn der Titel
       woandershin geht? Dann feiern die Menschen anderswo. Vielleicht in
       Chemnitz. Vielleicht in Magdeburg. Und dann wird wieder von den „neuen
       Bundesländern“ zu lesen sein, als wäre die Wiedervereinigung nicht 30
       Jahre, sondern 30 Tage her. Was man sonst sagen sollte? Als wertneutrale
       Bezeichnung wäre die Himmelsrichtung korrekt: Länder des Ostens.
       Ostdeutschland. So, wie man Süd- oder Norddeutschland sagt. Vieles ginge,
       nur die „neuen Bundesländer“, das ist falsch, ganz falsch. Неправильно, auf
       Russisch.
       
       4 Oct 2020
       
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