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       # taz.de -- „Einigkeit und Mord und Freiheit“ von Netflix: True Crime zur Wendezeit
       
       > „Einigkeit und Mord und Freiheit“ ist die erste eigene deutsche
       > Netflix-Dokuserie. Ein Blick hinter die Kulissen der neuen ARD und
       > ZDF-Konkurrenz.
       
   IMG Bild: Szene aus der Netflix-Serie
       
       Freitag, der 25. September 2020 könnte in die deutsche Fernsehgeschichte
       eingehen. Es passiert nicht alle Tage, dass ein ausländischer
       Programmanbieter eine Doku-Miniserie extra für Deutschland produziert.
       
       Der Vergleich hinkt, aber zuletzt kam so etwas von BBC-geschultem Personal
       im [1][Rahmen der Reeducation] nach der NS-Zeit vor. Jetzt kommt Netflix –
       und ist anders als damals streng in unterhaltender Mission unterwegs. Was
       nicht heißt, dass das Thema trivial wäre.
       
       „Einigkeit und Mord und Freiheit“ beleuchtet die Wirtschafts-Geschichte der
       deutschen Vereinigung und die [2][Rolle der Treuhandanstalt], aufgezogen an
       einem bis heute ungelösten Mordfall. Am 1. April 1991 wurde in Düsseldorf
       Treuhand-Chef Detlev Rohwedder erschossen. Offiziell wird bis heute eine
       mysteriöse dritte Generation der RAF verantwortlich gemacht. Doch wer die
       vier Folgen aus der Doku-Schmiede der [3][Gebrüder Beetz Filmproduktion]
       gesehen hat, glaubt das garantiert nicht mehr.
       
       Wie aber kam der Stoff zu Netflix? Und warum machen die das? Wer mit
       Netflix inhaltlich kommuniziert, trifft auf Watte: Man sei „definitiv“
       davon überzeugt, dass sich eigene Doku-Produktionen für den deutschen Markt
       lohnten.
       
       ## Netflix ist anders
       
       „Wir freuen uns, dass viele unserer non-fiktionale Formate weltweit und
       auch in Deutschland so gut ankommen. Wir planen deshalb einige spannende
       Projekte aus Deutschland für die nächsten Jahre“, sagt Jennifer Mival, die
       bei Netflix für „Unscripted & Doc Series“ in den deutschsprachigen Ländern
       zuständig ist.
       
       So viel zu den dürren Fakten: Die Rohwedder-Doku startet unter dem
       englischen Titel „A Perfect Crime“ in 190 Ländern. Sie firmiert dort als
       „True Crime“-Format, also der international höchst erfolgreichen
       Nacherzählung realer Verbrechen. Im konkreten Fall war Netflix auf die
       Beetzens zugekommen. Man wollte sich mal vorstellen und kennenlernen,
       erinnert sich Christian Beetz.
       
       Gleich beim ersten Termin habe die Netflix-Seite immer betont, wie „anders“
       sie seien. Also anders als die deutschen Sender, insbesondere der
       öffentlich-rechtliche Rundfunk. Entscheidendes Credo sei, „dass wir den
       Autoren und Talenten maximale kreative Unterstützung bieten, ihre
       Geschichte auf ihre Weise zu erzählen, die ihrer Vision treu bleibt“, heißt
       es im Netflix-Pressesprech.
       
       Beetz zufolge ist da was dran: „Die begreifen sich wirklich als
       Möglichmacher und stellen sich nicht in den Weg, sondern sagen: Mach deine
       Version!“ Der Deal sei damals ganz schnell gegangen, anders als bei vielen
       deutschen Dokumentarfilmen war auch die Finanzierung fix durch, so Beetz.
       Während deutsche Dok-Filmer*innen mühsam Filmförderung, Sendergelder und
       Kredite einsammeln müssen, zahlt Netflix monatliche Abschläge.
       
       „Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehen wir dagegen das Geld manchmal
       erst nach der Ausstrahlung und müssen deshalb viel über Banken
       zwischenfinanzieren. Das fällt alles weg.“ Auch die tarifvertragliche
       Bezahlung der Gewerke, gerade im Doku-Bereich in Deutschland ein Zankapfel,
       sei bei Netflix eingepreist, sagt Beetz.
       
       ## Wer einmal bei Netflix drin ist, hat viele Freiheiten
       
       Doch ein Deal mit dem Streaming-Konzern aus Los Gatos ist kein
       Wunschkonzert. Recherchen und Stoffentwicklung gehen geldmäßig auf die
       Kappe der Macher*innen. Netflix zahlt erst, wenn ein Stoff verbindlich
       produziert wird. „Solche Phasen können aber verdammt lang sein“, sagt
       Beetz. Bei der Rohwedder-Doku betrug sie rund ein Jahr. ARD und ZDF zahlen
       heute oft schon für solche Planungs- und Entwicklungszeiten.
       
       Ist der Stoff dann angenommen, liegen alle Rechte für immer bei Netflix.
       Dazu gehört auch, das Projekt jederzeit wieder fallen zu lassen wie eine
       heiße Kartoffel. „Und die Hürden, hier überhaupt reinzukommen, sind dazu
       relativ hoch“, so Beetz.
       
       Wenn man jedoch drin ist, scheint plötzlich alles anders zu sein. Ähnlich
       wie Regiseur*innen und Autor*innen, die [4][fiktionale Stoffe für Netflix]
       produzieren, berichtet Beetz von minimaler inhaltlicher Einmischung. „Sie
       sagen die ganze Zeit nur: Wir sind eine Entertainment-Plattform, das müsst
       ihr in den Kopf kriegen.“
       
       ## Das Feuilleton ist egal
       
       Was dann kommt, sind 14-tägige Runden zum Stand der Dinge mit allen
       Bereichen auf Netflix-Seite. „Beim ersten Call waren das rund 20
       Departments“, so Beetz. Bei Rohwedder ging es auch viel um Rechtsfragen,
       schließlich sind Akten wie Aufnahmen vom Tatort immer noch unter
       Verschluss. „Bei den Öffentlich-Rechtlichen hast du Angst vor den Juristen,
       weil die so viel bremsen.
       
       Bei Netflix fragen die Anwälte: Wie können wir das Projekt voranbringen?“
       Klassische Film-Abnahmen, hierzulande für viele Dokfilmer*innen wegen der
       diversen beteiligten Sender oft eher Fegefeuer-Runden mit trockenen Keksen
       gibt es gar nicht. „Es gab im Verlauf der Produktion viermal schriftliches
       Feedback, auf das wir dann schriftlich reagiert haben“, sagt Beetz.
       
       Am Ende zählt dann aber nur der Erfolg bei den Abonnent*innen. Da ist
       Netflix knallhart. „Was im Feuilleton steht, ist eher mal egal“, so Beetz.
       Selbst der Titel einer Produktion spiele eine ganz untergeordnete Rolle.
       Wichtig seien vielmehr die Key Visuals, also die Trailer- und Teaserbilder,
       mit denen Netflix seine Abonnent*innen zu den Produktionen lockt.
       
       Entsteht hier also auch im Bereich Doku eine massive Konkurrenz für [5][die
       öffentlich-rechtlichen Sender]? Bislang sind sie in Deutschland die von den
       Macher*innen nicht durchgehend geliebte, aber einzige verlässliche Bank für
       dokumentarische Produktionen. Netflix selbst weicht der Frage
       erwartungsgemäß aus.
       
       Mival betont, wo man überall schon prima mit ARD und ZDF zusammengearbeitet
       habe und dass „ gerade das deutsche Privatfernsehen im Non-Fiktionalen sehr
       stark“ sei. „Ganz sicher haben wir aber zur veränderten Nachfrage nach
       dokumentarischen Stoffen beigetragen und wir freuen uns, wenn wir Kreativen
       aus dem deutschsprachigen Raum eine internationale Bühne geben können.“
       
       Bevor jetzt bei den deutschen Sendern die Angst umgeht, müsse man sich aber
       eines klar machen, meint Beetz: „Die Kernzielgruppe von Netflix sind die 20
       bis 30jährigen. Und die gucken in Deutschland eh nicht mehr
       öffentlich-rechtlich.“
       
       25 Sep 2020
       
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