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       # taz.de -- Was kann die Serie „Emily in Paris“?: Die Pariser lieben das Drama
       
       > Unsere Autorin wohnt seit kurzem mehr in Rom als in der französischen
       > Hauptstadt. Gegen das Vermissen hilft ihr ein klischeebeladener
       > Netflix-Hit.
       
   IMG Bild: Unrealistisch und klischeebeladen? „Emily in Paris“ bei Netflix
       
       Seit sechs Wochen lebe ich nur noch wenig in Paris und die meiste Zeit in
       Rom. Dieser Umzug hat, davon abgesehen, dass diese Kolumne womöglich
       umbenannt werden muss, viele Vorteile. Zum Beispiel den, dass man Platz zum
       Leben hat, und zwar ohne sich komplett zu ruinieren.
       
       Bisher saß ich in knapp drei Quadratmetern über dem lauten Boulevard
       Richard Lenoir, an dem erst vor zwei Wochen erneut eine Messerattacke
       stattfand. Jetzt sitze ich in einem dreimal so großen Zimmer und schaue auf
       einen Orangenbaum.
       
       Das angeblich so wilde Chaos von Rom hält sich im Vergleich zu unserem
       Ausgangspunkt, also Paris, schwer in Grenzen, insgesamt wirkt alles,
       [1][trotz steigender Covidzahlen] und Maskenpflicht in allen
       Außenbereichen, recht sanft, ruhig, überschaubar und eben, wie man sich das
       so vorstellt, sehr schön.
       
       Alles prima also, trotzdem fehlt mir Paris. Dieses Paris, von dem alle
       Freunde am Telefon meinen, es sei „schrecklich“, „unerträglich“, die
       Stimmung „SO schlecht“, wir hätten ja „SO recht gehabt, jetzt abzuhauen“,
       und so weiter. Das ist ja nichts Neues. Das Leben in Paris erscheint den
       Parisern ja meist als permanentes Drama, als Ansammlung von unüberwindbaren
       Problemen, trotzdem bleiben sie, daraus wird man nicht schlau, es ist eben
       so.
       
       Das Dauerdrama und der Pathos, der für „tout et n’importe quoi“ aufgefahren
       wird, fehlen mir nicht, die Stadt aber eben schon, also dachte ich, ich
       schaue die Serie über die zur Zeit alle reden, oder besser gesagt alle
       streiten: „Emily in Paris“. Seit einer Woche steht die Serie, die von den
       Abenteuern der jungen Amerikanerin Emily in einem Postkarten-Paris erzählt,
       auf Platz eins der französischen [2][Netflix-Seiten].
       
       Wäre man ein bisschen gemein, würde man jetzt sagen, die Franzosen suchen
       jetzt, wo sie so viel zu Hause rumsitzen müssen, nach Empörungsmaterial,
       einem Grund, sich aufzuregen, den sie normalerweise auf der Straße, in der
       Metro oder im Café finden würden: Immerhin handelt es sich bei dem Erfolg
       der Serie um reinen „hate watch“. Alle schauen es, um sich darüber zu
       echauffieren wie, pardon, scheiße es ist.
       
       [3][Wie unrealistisch, wie klischeebeladen], wie schlecht die Franzosen
       darin wegkommen, wie unverschämt es sei, sie als faul, dauerflirtend, ein
       bisschen dreckig, untreu, altmodisch und unfreundlich darzustellen, und
       überhaupt: Paris ist gar nicht so schön! Wo bleiben bitte der Dreck und die
       Ratten? [4][Und die Banlieues?] Und der RER B?
       
       Die Serie ist in der Tat, wie soll man sagen, ziemlich belämmert. Der Plot
       ist absurd, die Dialoge hirnrissig, das Leben dieser jungen Frau in dieser
       neuen, an sich sehr rauen Stadt unverschämt einfach und natürlich gibt es
       weder das Paris, das hier gezeigt wird, noch so ganz diese Pariser. Wer
       nach Paris kommt und keine Millionärstochter ist, wohnt wahrscheinlich
       nicht an der wirklich sehr hübschen Place de l’Estrapade, direkt neben dem
       Pantheon, in einer „chambre de bonne“, die meist 15 und nicht 50
       Quadratmeter groß ist.
       
       Und ja, die Straßen sind dreckig, die Metro, die man normalerweise nutzt,
       um sich fortzubewegen, ist laut und eng und stickig, es wird viel
       gestreikt, viel demonstriert, „La Perla“-Unterwäsche verschenkt (leider)
       kaum jemand und dass Franzosen ausdauerndere Liebhaber sind als andere, ist
       meiner Meinung nach (leider) ein Gerücht.
       
       Nur ist das doch auch alles ein bisschen egal. In der Realität wurde ein
       ganzes Viertel, nämlich das einst sehr reizende Saint Germain des Près,
       luxussaniert und von all seinen besonderen, interessanten und skurrilen
       Orten befreit, um dem amerikanischen Traum von Paris als Luxusmeile mit
       „Vin Rouge“ und „Fromage“-Topping zu entsprechen.
       
       Das Café de Flore, das bis vor zehn Jahren noch ein realer Ort war,
       empfängt fast nur noch Amerikanerinnen und Asiatinnen im
       „Pariserinnen“-Kostüm (wie Emily, mit der seit etwa siebzig Jahren
       aussortierten Baskenmütze), da kann ein kleines Serienklischee „de plus ou
       de moins“ doch nun wirklich nicht so schlimm sein. Ich zumindest saß hier
       im Regen in Rom, fand „Emily in Paris“ wahnsinnig dumm und habe mich
       trotzdem ein bisschen darüber gefreut.
       
       Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Paris und Rom.
       
       13 Oct 2020
       
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