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       # taz.de -- Identitätspolitik auf der Buchmesse: Ich ist eine andere
       
       > Minderheitenpolitik findet nicht mehr nur in der Linken statt. Das kann
       > man als Fortschritt lesen, gäbe es nicht den Link zu einem
       > Gegenwartsparadigma.
       
   IMG Bild: Ist das, was wir als unsere Identität annehmen selbst gewählt oder Ergebnis von Unterwerfung?
       
       Beachtlich ist die Anzahl der Titel über (Anti-)Rassismus, LGBTI-Themen,
       Feminismus und Identitätspolitik, die die deutschen Verlage in diesem
       Herbst präsentieren. Musste man Bücher zu diesem Themenkomplex früher in
       linken Buchläden suchen, füllen sie heute große Sonderflächen in den
       Filialen großer Buchhandelsketten.
       
       Nicht nur dort sind diese Themen angekommen. Sogar Modeblogs präsentieren
       Bücher über Identitätspolitik neben Kaufempfehlungen für die neuesten
       Chunky Boots und neben Interior-Tipps für die neue Eigentumswohnung.
       
       Über die verstörenden Individualitätsbehauptungen und Subversionsgefühle in
       diesen Blogs à la „Meine Tochter trägt Blau statt Rosa“, die ebenso aus der
       Zeit Ludwig Erhards stammen könnten, kann man bestenfalls hinwegsehen wie
       auch über die Fragen, wann das richtige Alter fürs Heiraten erreicht ist,
       wie man einen bunten Schal richtig stylt oder welche Kleidung die
       PR-Assistentin letzte Woche trug.
       
       ## Du kannst nur sein, wer du bist
       
       Ebenso sollte man die sich unendlich wiederholenden Artikel mit Titeln wie
       „Der Tag, an dem ich verloren ging und mich selbst wiederfand“ – „Wer bin
       ich?“, – „Die Herausforderung, die Identität als Mutter zu bewahren“ und
       „Du kannst nur sein, wer du bist“ oder „Wir wollen nur sein, wer wir sind“
       ignorieren.
       
       Oder vielleicht doch nicht? Denn wirklich interessant ist hier doch die
       Frage: Warum findet Identitätspolitik, die die [1][Linke] schon seit
       Längerem spaltet, in dieser spießigen, affirmativen Welt überhaupt eine so
       große Resonanz?
       
       Oder anders gefragt: Was macht die [2][Identitätspolitik] für die weiße,
       (links-)liberale Mittelschicht so interessant?
       
       ## Verkürzte Emanzipationsideale
       
       „Verkürzte Emanzipationsideale“ würde wahrscheinlich die Philosophin und
       Feministin Nancy Fraser antworten und Linksintellektuelle wie Slavoj Žižek
       ihr zur Seite springen mit Aussagen wie: Der neoliberale Mainstream und die
       Kämpfe für Minderheitenrechte teilten dieselben kulturellen Werte –
       individueller Aufstieg statt sozialer Gleichheit, Selbstoptimierung statt
       Solidarität, Empowerment statt Antikapitalismus – linke Identitätspolitik
       sei ein großes Repräsentationstheater in unheiliger Allianz, in dem die
       Linke die Klassenpolitik aufgegeben habe.
       
       Die Idee, dass man die identitätspolitischen Anliegen prinzipiell fein
       säuberlich von den klassenpolitischen oder sozialen trennen könne, ist
       nicht überzeugend, haben sich doch historisch viele Impulse aus den
       sozialen Bewegungen zunächst als partikulare Interessen dargestellt und
       waren letztlich Teil eines allgemeineren Anliegens für soziale
       Gerechtigkeit.
       
       Was aber die partikularen Kämpfe unserer Zeit so problematisch macht, sind
       die immer schrilleren Grenzziehungen zwischen kulturellen Differenzen und
       vermeintlich klar voneinander getrennten Identitäten. Diese Einhegungen
       führen zu abstrusen Vorstellungen von Identitäten und davon, was sie im
       Kern ausmacht.
       
       Und je genauer die Vorstellungen, desto vehementer werden sie verteidigt,
       abgegrenzt und überhöht und die entsprechend kategorisierten Menschen
       schlussendlich mit einer Aufforderung belegt, die dem großen Paradigma
       unserer Gegenwart entspricht: Sei authentisch!
       
       ## Spiel mit den Masken
       
       Das Authentizitätsparadigma ist für Menschen, die in der Postmoderne
       geschult sind, einigermaßen unterkomplex. Schließlich fand man den
       Gedanken, dass Identitäten nur konstruiert sind, um uns an das zu fesseln,
       was wir sein sollen, aber vielleicht gar nicht sein wollen, ziemlich gut.
       Die Freiheit, die in der Dekonstruktion aufschien, war das Gegenteil von
       Safe Spaces, man begehrte nicht Verbote und forcierte schon gar keine
       Schuld- und Geständniskultur, wie sie heute in Teilen der Linken gepflegt
       wird.
       
       Stattdessen suchte man lieber das Spiel mit den Masken, wie es bei
       [3][Michel Foucault] hieß, der das wunderbar lapidar auf den Punkt brachte:
       „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der
       gleiche bleiben: Das ist eine Moral des Personenstands; sie beherrscht
       unsere Papiere.“
       
       Gegenwärtig ist das anders. Identität, Seele, Authentizität – diesen
       Begriffen wohnt heute ein Individualitätsversprechen inne, das allerorten
       als begehrenswert dargestellt wird. Alles Künstliche, Unechte,
       Fragmentierte, Vieldeutige, Widersprüchliche, Abstrakte und jedes Geheimnis
       ist verdächtig.
       
       Die Kabarettistin Lisa Eckhart drückte das in einem [4][Interview] sehr
       klug so aus: „Dass wir in einer Zeit leben, wo ‚künstlich‘, ‚manieriert‘
       und ‚gewollt‘ keine Komplimente sind, erachte ich als sehr seltsam.“ Und
       wie seltsam, dass die Kritiker:innen Eckhart nicht einfach als Rassistin
       beschimpften, sondern sich von ihrer Künstlichkeit angewidert zeigten.
       
       ## Wo das Gesetz der Wahrhaftigkeit gilt
       
       Wo ständig Wahrhaftigkeit eingefordert wird, verlernt man schnell, zwischen
       Autor und Erzähler oder zwischen Mensch und Rolle zu unterscheiden, und
       sind Gefühle wichtiger als Argumente.
       
       Man denke nur an den Erfolg des Memoir-Genres in der Literatur, das einen
       Kritiker der Zeitung Die Welt zu der verstörenden Aussage anregte: „Kann es
       sein, dass mir das Fiktionale plötzlich wie eine Lüge vorkommt, also etwas
       moralisch Verwerfliches.“
       
       Woher das alles? Für den Literaturwissenschaftler Erik Schilling, der
       kürzlich ein Buch mit dem Titel „Authentizität“ (C.H. Beck, 2020) vorgelegt
       hat, ist Authentizität als „zentrale Sehnsucht“ der Gegenwart eine
       „Reaktion auf zunehmende gesellschaftliche Komplexität“.
       
       Analytischer der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen. Er deutet den
       „dauerbrennenden Authentizitätsdiskurs“ völlig richtig im Zusammenhang mit
       einem gefühlten „Verlust von Erfahrbarkeit“. In der kapitalismuskritischen
       Variante wird dieser Verlust in der Warenform verortet, Stichwort
       [5][Entfremdungs]- und Verdinglichungstheorien. In der rechten Variante ist
       die Moderne-skeptische Kulturkritik ein Vorläufer.
       
       Klar ist, die Sehnsucht nach Authentizität ist eine Sehnsucht nach
       Eindeutigkeit. Und selbst dort, wo man sich progressiv geriert, kommt man
       ständig mit einem moralischen Imperativ um die Ecke. In diesen Modeblogs
       etwa, wo der Mode als Behauptung des Neuen gefolgt, aber mit Bedacht
       Mittelmaß gehalten wird, um möglichst vielen einen Identifikationsraum zu
       geben und Politik in Lifestyle übersetzt wird, liegen die ideologischen
       Anrufungen wie in einem offenen Buch vor einem. – „Du kannst nur sein, wer
       du bist.“
       
       ## Jenseits der Unterdrückung
       
       „Emanzipationsbewegungen müssen das politisieren, was als soziale
       Eigenschaft gegen sie gerichtet wird“, schreibt der liberale
       Rechtswissenschaftler [6][Christoph Möllers] in seinem gerade erschienenen
       Buch „Freiheitsgrade“ (Suhrkamp, 2020) und führt unfreiwillig den blinden
       Fleck der Identitätspolitik unterm Authentizitätsparadigma vor, der in der
       fehlenden Kritik des Identitätszwangs besteht und darin, in den
       Kategorisierungen zu verharren.
       
       Oder wie formulierte das ein Aktivist der Black-Lives-Matter-Bewegung in
       Anlehnug an die Schriftstellerin [7][Toni Cade Bambara] vergangenen Sommer:
       „Wir brauchen Kategorien, die den Kampf der schwarzen Feministinnen
       jenseits der Unterdrückung verstehen, die das System ihnen auferlegt. Wir
       alle wissen, dass Identitätspolitik, dieses Gespräch über „weiße
       Privilegien“ … die Grenzen, die wir zu überwinden versuchen, verstärkt.
       Wenn sie jemals einen Nutzen oder ein Ziel hatte, hat der Aufstand [BLM,
       T.M.] sie an diesem Punkt abgelöst.
       
       Man wird sehen. In Deutschland kommt sie wohl gerade erst im
       (links-)liberalen Mainstream an. Andererseits ist das ja bei Weitem nicht
       das Schlimmste.
       
       15 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nancy-Fraser-ueber-Populismus/!5402332
   DIR [2] /Kampf-gegen-Diskriminierung/!5699209
   DIR [3] /Daniel-Defert-ueber-Michel-Foucault/!5238682
   DIR [4] https://www.derstandard.at/story/2000119296971/lisa-eckhart-authentizitaet-ist-die-erzfeindin-von-zivilisiertheit
   DIR [5] /Debatte-Entfremdung-bei-Marx/!5501103
   DIR [6] /Mosse-Lecture-an-Humboldt-Uni-Berlin/!5546822
   DIR [7] https://www.britannica.com/biography/Toni-Cade-Bambara
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tania Martini
       
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