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       # taz.de -- Theaterstück „Der Ursprung der Welt“: Eine Gala für die Vulva
       
       > Das Schauspiel Hannover zeigt Liv Strömquists Erfolgscomic „Der Ursprung
       > der Welt“ als feministische Revue über verdrängte Sexualität.
       
   IMG Bild: Bringen Bewegung in den Text: vier sehr unterschiedliche Frauentypen
       
       Hannover taz | Verrückt ist es und eine menschheitsgeschichtliche
       Peinlichkeit, dass Frauen sich für ihr Geschlecht zu schämen haben. Also
       rein biologisch bereits für ihre Vulva, das Ding zwischen den Beinen, aber
       auch für all das, was sozial und psychologisch so dran hängt an
       Menstruationsfluss, Orgasmus und so weiter. Die Männerwelt ist grässlich
       ignorant, verklemmt und pimmelfixiert – so weit, so schlecht.
       
       Weit finsterer aber, heißt es auf der Ballhof-Bühne in Hannover, seien
       Männer wie Cornflakes-Miterfinder und Arzt John Harvey Kellogg. Statt
       wegzugucken, hat der nämlich sehr intensiv nachgedacht über die Klitoris
       und was sich damit so alles anstellen lässt. Onanie, sagte er, sei Schuld
       an Leiden wie Krebs, Epilepsie oder Wahnsinn; eine Besessenheit, die den
       Frühstücksflocken-Papst auch praktisch tätig werden ließ: „Die Applikation
       von reiner Karbolsäure auf die Klitoris ist ein hervorragendes Mittel gegen
       abnorme Wallungen.“
       
       Kellogg ist eine von vielen historischen Figuren, deren Auftritte das Stück
       als roter Faden durchziehen: „Männer“, warnt der Chor dann stets
       Jingle-artig vor“, die sich zu sehr für das interessieren, was als das
       weibliche Geschlechtsorgan bezeichnet wird.“
       
       Zusammen- und bloßgestellt wurden diese Typen von der schwedischen
       Comic-Künstlerin Liv Strömquist in ihrem Band „Der Ursprung der Welt“
       (Avant Verlag). Der hat seit seiner deutschen Veröffentlichung in 2017
       ziemliche Wellen geschlagen, ist für einen feministischen Avantgardecomic
       erstaunlich breit besprochen worden und hat sich übrigens auch so gut
       verkauft, dass Strömquists frühere Bücher (etwa über die romantische
       Zweierbeziehung) direkt hinterher übersetzt und in andere Medien überführt
       wurden. Unter der Regie von Franziska Autzen jetzt eben auch für die
       Theaterbühne.
       
       ## Beknackte Vulva-Experten
       
       So groß wie man meinen könnte, ist der Schritt vom Comic auf die Bühne
       allerdings nicht. Die Texte beider Gattungen setzen klassischerweise aufs
       gesprochene Wort, was bei Radiomoderatorin Liv Strömquist noch mal
       verstärkt zum Tragen kommt. Sie schreibt nämlich noch lockerer, als die
       meisten sprechen können.
       
       Auf der Bühne formen ihre Aufklärungsepisoden nun ein
       Infotainment-Galaprogramm: mit einem opulenten Säulenbau im Hintergrund,
       über dessen Treppenstufen eine Art roter Teppich in den vorderen Bühnenraum
       menstruiert. Vier Frauen bringen hier den Text in Bewegung, sprechen ihn
       emphatisch nach, moderieren einander an und unterbrechen sich gleich wieder
       mit Werbung, Tanz und Gesang. Immer mal wieder stülpen sie sich bärtig
       bedruckte Leibchen über, um kurz auch die beknackten Ansichten von
       Vulva-Experten wie eben Doktor Kellogg oder dem Heiligen Augustinus zu
       verkünden.
       
       Dass es hier keine Sekunde langweilig wird, verdankt Franziska Autzens
       Inszenierung ihrer fachgerechten Zerlegung von Strömquists lyrischem Ich in
       vier sehr unterschiedliche Frauentypen. Alrun Hofert ist für Ironie,
       Verruchtes und Süffisanz zuständig, tritt im Schamlippendress als Vulva
       höchstpersönlich auf, die einen nachts weckt, um sich dem Kopf weiter oben
       in Erinnerung zu rufen.
       
       Daneben blödelt Katherina Sattler vorsätzlich nonchalant und unterstreicht
       so die unfassbare Blödigkeit des patriarchalen Status quo. Lucia Kotikova
       erlebt derweil eine Achterbahnfahrt als Spielball der Selbstzweifel. Sie
       tritt an als die Normal-Naive, der unter den gesellschaftlichen Umständen
       nicht viel mehr bleibt, als erst durchzudrehen und dann herauszuarbeiten,
       wie sich mit all der verquarzten Natürlichkeit umgehen ließe: die
       undankbare Aufgabe so ziemlich aller Frauen, beziehungsweise Menschen, die
       Kotikova hinreißend intim auf der Bühne durchexerziert.
       
       Auffällig harmonisch fügt sich als Vierte Irene Kugler ein, die immerhin 40
       Jahre älter als die anderen Selbstfinderinnen ist und in
       traditionell-feministischer Schroffheit mit Schmackes noch mal abschließend
       klärt, dass es hier nicht um irgendwelche Problemchen irgendwelcher junger
       Frauen geht, sondern um einen menschheitsgeschichtlichen Irrsinn, der jetzt
       endlich auf den Müll gehört.
       
       Wobei: Skandalös sind gerade auch die jüngeren Jahreszahlen in diesen
       Geschichten. Dass etwa die tatsächliche Größe der Klitoris erst um 1998
       bestimmt wurde (und es bis heute in die wenigsten Biobücher geschafft hat),
       ist schon verrückt. Man stelle sich vor, heißt es im Stück, neulich hätte
       wer gemerkt, dass man sich bei der Größe der Bauspeicheldrüse um ein paar
       hundert Prozent vertan hat.
       
       ## Erschütternd unterhaltsam
       
       Fürs Publikum ist die dynamische Besetzung eine wahre Freude – und setzt in
       Sachen Deutung vielleicht auch ein finales Ausrufezeichen: Denn wenn diese
       vier sich einig werden können, dann sollte es doch wohl auch der Rest der
       Welt irgendwie hinbekommen.
       
       Dass die schlagfertig in Stellung gebrachte Empörung neben dem Sprachwitz
       des Comics übrigens auch auf einer beachtlichen Rechercheleistung beruht,
       spielt in dieser Theaterfassung eine etwas unterbelichtete Rolle.
       Strömquist hat nämlich nicht nur Texte geborgen, sondern sich vor allem
       auch an historischem Bildmaterial abgearbeitet, wovon auf der Bühne nur
       wenig zu sehen ist.
       
       Nacherzählt werden etwa die stilisierten Menschen, die von der Nasa per
       Sonde ins All geschickt wurden, um sich der außerirdischen Nachbarschaft
       vorzustellen. Ursprünglich hatte die gezeichnete Frau einen kleinen Strich
       im Schritt: angedeutete Schamlippen, die vorm Abflug schnell wieder
       ausradiert wurden. Lustig ist die Geschichte auch im Theater, das
       Beweisbild im Comic ist hingegen richtiggehend erschütternd.
       
       Man könnte darüber streiten, ob „Der Ursprung der Welt“ mit seiner
       gekonnten Verschachtelung aus Bild und Text im Schauspiel nun mehr gewinnt
       als verliert. Oder aber: Man lässt die olle Gattungsfrage beiseite und
       erinnert sich, dass auch die gezeichnete Bio-Nachhilfe damals kein
       selbstverständlicher Comicstoff war und heute trotzdem unbestreitbar zu den
       wichtigsten und stilbildenden Veröffentlichungen der vergangenen Jahre
       zählt.
       
       Funktionieren tut’s in jedem Fall auch auf der Bühne und stiftet irgendwo
       zwischen Galarevue und Lecture-Performance einen bei allem Elend noch
       höchst unterhaltsamen Abend – von dem man sich gerne belehren lässt.
       
       17 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan-Paul Koopmann
       
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