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       # taz.de -- Die Verantwortung von Superreichen: Von König Midas lernen
       
       > In der globalen Wirtschaftskrise explodieren die Vermögen der extrem
       > Reichen. Deren Exzesse sind buchstäblich tödlich für unseren Planeten.
       
   IMG Bild: Irgendwo muss das Geld ja hin: Yachten auf der Düsseldorfer Messe Boot 2020
       
       König Midas war reich. Extrem reich. Unermesslich und unantastbar, denn
       alles, was er berührte, verwandelte sich in Gold, die Rosen im Garten
       seiner Tochter ebenso wie die gegrillte Dorade auf seinem Teller. Weswegen
       er gemäß einer der vielen Legenden, die sich um ihn ranken, verhungerte.
       
       König Mansa Musa aus Mali war reich. Extrem reich. So reich, dass der
       Goldpreis in Kairo zusammenbrach, als er mit Tausenden von Höflingen auf
       Hadsch ging, auf Pilgerschaft nach Mekka und Medina. Bei der Rückreise
       konnte er seine riesige Entourage kaum ernähren, so wenig war sein Gold
       inzwischen wert.
       
       Mythen sind unterhaltsam und lehrreich. Zu viel Reichtum galt seit je eher
       als Fluch. Nicht nur für die Onkel Dagoberts, sondern auch für die
       jeweilige Gesellschaft. Weswegen es höchste Zeit ist, darüber nachzudenken,
       was mit uns gerade geschieht, da die Vermögen der Ultrareichen explodieren.
       
       Schon vor der Pandemie „erwirtschaftete“ das reichste Prozent der
       Bevölkerung mehr als das Bruttosozialprodukt von 169 Staaten – darunter
       alle Länder im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent. Die
       Ultrareichen haben vom Coronavirus besonders profitiert. Laut dem
       Bloomberg-Milliardärsindex sind die 500 reichsten Menschen der Welt trotz
       der globalen Wirtschaftskrise nun 813 Milliarden Dollar reicher als zu
       Beginn des Jahres. Das Gesamtvermögen der Ultrareichen sei im Juli auf
       einen neuen Höchststand von 10,2 Billionen Dollar, gegenüber 8,9 Billionen
       Dollar Ende 2017, gestiegen. Der größte Reibach wurde im Technologie- und
       Gesundheitssektor gemacht. Die Nettovermögen in den Bereichen
       Unterhaltung, Immobilien und Finanzen wuchsen im Vergleich dazu um
       bescheidene 10 Prozent.
       
       Einem Bericht der Schweizer UBS zufolge haben die Milliardäre dieser Welt
       ihr Vermögen von April bis Juli dieses Jahres um mehr als ein Viertel
       gesteigert, also zu einem Zeitraum, als Milliarden von Menschen ihre Arbeit
       verloren oder nur aufgrund von staatlichen Programmen überleben konnten.
       Diese Unsummen wurden zumeist auf den Aktienmärkten ergattert, die sich
       erstaunlich schnell von ihrer anfänglichen Baisse erholten. Laut UBS hat
       die Zahl der Milliardäre mit 2.189 einen neuen Höchststand erreicht.
       
       Wer sich über die Verhältnisse hierzulande informieren will, sei auf die
       Webseite der World [1][Inequality Data Base] verwiesen. Eine Grafik ist
       besonders interessant: Der Anteil am Gesamteinkommen der obersten zehn
       sowie der untersten fünfzig Prozent. 1984, als ich zu studieren begann, lag
       der Anteil der Oberen bei 23,3 und der Unteren bei 30,2 Prozent. Dreißig
       Jahre später hat sich die Verteilung umgedreht. Nun erhalten die oberen
       zehn Prozent 30,4 und die untere Hälfte nur mehr 25,9 Prozent. Wir haben
       also eine massive [2][Umverteilung] von unten nach oben erlebt. Und da
       behaupten immer noch viele in der Politik, sie seien gegen Umverteilung.
       
       Sind diese Realitäten nur Schönheitsflecken auf dem makellosen Körper des
       Kapitalismus oder maligne Melanome, die wirtschaftlich und sozial
       destruktive Auswirkungen haben? Letzte Woche erschien auch eine Studie von
       Oxfam und dem Stockholmer Umweltinstitut, nach der das wohlhabendste
       Prozent der Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2015 für den Ausstoß von mehr
       als doppelt so viel Kohlendioxid verantwortlich war wie die ärmere
       Menschheitshälfte.
       
       Wer viel mehr Geld hat, als er oder sie ausgeben kann, investiert meist in
       destruktive Industrien wie fossile Brennstoffe und Bergbau. Extremer
       Reichtum wird nicht „verdient“, sondern extrahiert – der Natur entrissen
       von unterbezahlten Arbeitern, gesichert durch Monopolmacht und politische
       Einflussnahme. Darüber sollten wir ein demokratisches Gespräch führen: Ab
       welcher Ziffer wird Raffen und Horten sozial unverträglich? 10 Millionen?
       50 Millionen? 100 Millionen?
       
       In der Epoche eines drohenden ökologischen Zusammenbruchs sind derartige
       Exzesse buchstäblich tödlich. Die Existenz von Milliardären ist mit der
       Einsicht in planetarische Grenzen unvereinbar. Wer auf einem halbwegs
       intakten Planeten halbwegs human leben möchte, muss etwas gegen diese
       perverse Ungleichheit unternehmen. Das ist weniger radikal, als es auf den
       ersten Blick erscheint: Selbst ein klassisch sozialdemokratischer
       Wirtschaftswissenschaftler wie Thomas Piketty stellt klar: „Eine drastische
       Verringerung der Kaufkraft der Reichsten hätte an sich schon erhebliche
       Auswirkungen auf die Verringerung der Emissionen auf globaler Ebene“. Erst
       kürzlich forderte er eine Sondersteuer für hohe Vermögen.
       
       ## Christentum als politisches Programm
       
       Das wäre sogar im Interesse der Ultrareichen, denn es ist nur eine Frage
       der Zeit, bis ihr Reichtum angesichts von Milliarden hungernder und
       dahinsiechender Menschen zu gewalttätigen Konflikten führen wird. Die
       Ungleichheit zwischen Arm und Reich zerreißt irgendwann einmal das soziale
       Gefüge. Wie mir Hans Peter Haselsteiner, Inhaber der Strabag, Platz 24 auf
       der österreichischen Milliardärsliste, vor Jahren anvertraute, müsse seine
       Klasse für ein Auskommen aller sorgen (daher seine Unterstützung eines
       bedingungslosen Grundeinkommens), denn sonst könnte sie alles verlieren.
       
       Vielleicht könnten wir vor der Bundestagswahl 2021 ausnahmsweise mal das
       Christentum als politisches Programm ernst nehmen. Schlagen wir nach in der
       Apostelgeschichte (2,44–45): „Alle aber, die gläubig geworden waren, waren
       beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe
       und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“
       
       So wie König Midas, der gemäß einer anderen Legende alles aufgab,
       umherwanderte, Pan anbetete und Schüler von Orpheus wurde. Ein gelungenes
       Lied, das ist wahrer Reichtum. Und es tut niemandem weh.
       
       14 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Zivilgesellschaft-in-der-Klimakrise/!5712263
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ilija Trojanow
       
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