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       # taz.de -- Ausstellung im Kunstverein München: Unerfüllte Liebe
       
       > Die Schau „Not Working. Künstlerische Produktion und soziale Klasse“ im
       > Kunstverein München ergründet gesellschaftliche Rollen von
       > Kunstschaffenden.
       
   IMG Bild: Installationsansicht: Lise Soskolne und Gili Tal in Not Working, Kunstverein München, 2020
       
       Simultan auf zwei Ebenen – mit der Präsentation künstlerischer Positionen
       und einem Dossier mit Essays verhandelt der Kunstverein München
       „Künstlerische Produktion und soziale Klasse“, ihr Missverhältnis,
       Verschränkungen, aber auch Ungenauigkeiten und Verwerfungen. Und betrachtet
       die Versuche bürgerlicher Vereinnahmung des auf ewig zur kritischen Distanz
       verpflichteten Kunstschaffens. „Not working“ heißt die Ausstellung. Das
       lässt sich mit „funktioniert nicht“ übersetzen, könnte auch „trügerisch“
       bedeuten oder „irreführend“. Es erinnert jedenfalls fatal an die
       Zustandsbeschreibung einer unerfüllten Liebe.
       
       Was warum nicht klappt, wird bezeichnenderweise im Hofgarten an der
       Residenz untersucht – dort sind die Räume des Kunstvereins –, einem Areal
       der Stadt München, dessen historische Kulisse geprägt ist von einstiger
       Pracht und der Macht des Klerus. Was heute gern als touristisches Panorama
       mit ästhetischem Gewinn für den hedonistisch ausgerichteten Städter abgetan
       wird, tut freilich weiterhin seine Wirkung und blendet aus, was nicht in
       die Kategorie von Luxus und Moden passt. Ein schwieriges Terrain also für
       Fragen zu den Rahmenbedingungen der Kunstproduktion, zum Standesbewusstsein
       von KünstlerInnen und RezipientInnen.
       
       ## Wandeln mit verzotteltem Bart
       
       Maurin Dietrich, Leiterin des Kunstvereins, erinnert an die historische
       Figur des sogenannten Schmuckeremiten, die die Gärten und Parks des
       englischen Adels im 18. und 19. Jahrhundert zieren sollte. „Mit
       verzotteltem Bart und zerrissenen Kleidern“ wandelten sie im gepflegten
       Gelände und „verkörperten das Phantasma der Zivilisationsabkehr“. Noch
       heute wird KünstlerInnen die Qualität von Hofnarren attestiert, die sich um
       nichts scheren müssen, deren oft ökonomisch prekäre Außenseiterrolle
       freilich Ausdruck einer gnadenlos kapitalistisch orientierten
       Systemrelevanz ist.
       
       In ihrem Aufsatz für das Dossier beschreibt Lise Soskolne temperamentvoll
       die Arbeitsbedingungen von KünstlerInnen auf Basis der an den
       Kunsthochschulen vermittelten und schließlich internalisierten Mechanismen
       des Kunstsystems und beklagt den Verlust einer moralischen Autorität.
       Soskolne ist Künstlerin, Aktivistin und Mitbegründerin von Working Artists
       and the Greater Economy (W.A.G.E.), einer New Yorker Organisation, die sich
       um Transparenz und Regulierung in der Entlohnung von Kunstschaffenden
       bemüht.
       
       1994 hat der Münchener Künstler Josef Kramhöller eine Geschichte der
       Kunstausbildung in Großbritannien versucht; die im Dossier abgebildeten
       Auszüge zu seiner Materialsammlung „The Lord drinks with the Cook in the
       Kitchen“ geben erschütternde Auskunft über die unverrückbar romantischen
       (und destruktiven) Erwartungen an die Kunst und ihre Protagonisten.
       
       Zudem hat ihn das ideologische Milieu von Genuss, Stil und Luxus
       beschäftigt. Niederschlag findet das in seiner Fotoserie von traumgleich
       verschwommenen Luxusobjekten in exquisiten Münchner Schaufenstern. Scharf
       gestellt ist lediglich sein Fingerabdruck, den er auf den Scheiben
       hinterlässt; er suggeriert Verlangen und Missfallen, Ausgrenzung und
       Zugehörigkeit gleichermaßen.
       
       ## Bedingungen von Zugehörigkeit
       
       Angharad Williams hinterfragt die Bedingungen der gesellschaftlichen
       Zugehörigkeit in ihrer Performance „Best Suit“, für die sie sich in Schale
       geworfen hat und nachts in den gepflegten städtischen Rabatten Blumen
       klaut. Wird sie nur deshalb nicht aufgehalten, weil sie in den richtigen
       Klamotten, Maßanzug und teuren Schuhen, steckt? Sieht so aus – und fügt
       sich ins nicht nur in München verbreitete hedonistische Vorurteil. Das
       Ornat mit exkulpierender Wirkung ist als Herzstück der Aktion ausgestellt.
       
       Stephen Willats beschäftigt sich mit der Wirkmacht von Herkunft und
       Ausbildung, der entsprechenden Sozialisierung und der somit schwer bis gar
       nicht herstellbaren Chancengleichheit. Für „Brentford Towers“ fotografierte
       er 1985 BewohnerInnen der Brentford Towers, einer Gruppe von Wohnsilos in
       Westlondon, dazu einen von ihnen ausgewählten, sehr persönlichen Gegenstand
       in ihrer Wohnung und den zu ihrem Lebensraum gehörenden Fensterblick.
       
       Zu einzelnen Schautafeln zusammengefügt und mit Anmerkungen der MieterInnen
       versehen, entsteht ein berührender, auch verstörender Bilderbogen der
       Comédie Humaine. Lieblingsstücke und Ausblick mögen sich im Lauf der Jahre
       verändert haben. Die Hierarchie sozialer Klassenzugehörigkeit ist auch
       jenseits von Großbritannien unerschütterlich.
       
       Der Bogen ist weit gespannt in dieser Ausstellung. Und führt obendrein
       zurück in die Anfänge des bald zweihundertjährigen Kunstvereins. Damals war
       „… Der Lebensraum des Einzelnen meist schon von Geburt an weitgehend
       definiert; der persönliche und berufliche Werdegang, die Zugehörigkeit zu
       Religionsgemeinschaften und Zünften (…) war Teil der nicht in Frage zu
       stellenden existenziellen Rahmenbedingungen“, schreibt Adrian Djukic,
       Archivar des Kunstvereins, in seinem Abriss. Das änderte sich allmählich.
       
       Es entstanden „neue Tätigkeiten in den Wissenschaften, bei Zeitungen, im
       Schulwesen und in Handelsunternehmen. Auch das Leben neben der Arbeit trug
       Züge neuer Freiheiten …“ Man pflegte das der Aufklärung verpflichtete
       Bildungsideal. Ein Fortschritt, den der Hof mit obrigkeitlicher Milde und
       scharfem Blick begleitete. In dem neuen, allen Besuchern zugänglichen
       Archivraum ist nun, quasi als anregende Coda zur Ausstellung, Material zu
       sehen, das die künstlerische Begleitung des Hauses zum Thema
       Klassenbewusstsein über die letzten Jahrzehnte belegt. Arg viel hat sich
       nicht getan. Schaut alles nur anders aus. Zeitgemäßer.
       
       30 Sep 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annegret Erhard
       
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