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       # taz.de -- Umgang mit Fehlgeburten: Lasst sie doch trauern
       
       > Chrissy Teigen zeigt sich nach einer Fehlgeburt auf Instagram. Die
       > Kommentare teilen sich in tröstende Worte und moralische Überlegenheit.
       
   IMG Bild: Teilen Glück und Trauer auf Instagram: Chrissy Teigen und ihr Partner John Legend
       
       Es ist ein Bild, das auf die eine oder andere Weise berührt. Chrissy Teigen
       sitzt weinend auf ihrem Krankenhausbett. Im Text, den sie dazu auf
       Instagram teilt, erfährt man, dass sie eine Fehlgeburt hatte. Sie war etwa
       im fünften oder sechsten Monat schwanger. Auf dem nächsten Bild hält sie
       ihr Baby Jack in ein Handtuch gewickelt, ihr Mann, der US-Sänger John
       Legend, neben ihr.
       
       [1][Der Instagram-Post] hat zu Redaktionsschluss bereits zehn Millionen
       Likes und eine halbe Million Kommentare, die sich im Grunde in zwei Lager
       teilen: Die einen bekunden ihr Beileid, sprechen oft auch über ihre eigene
       Erfahrung mit Fehlgeburten. Die anderen verabscheuen, dass Teigen ihr Leid
       auf diese Weise öffentlich macht.
       
       Nun ist Teigen nicht nur Model, TV-Star und [2][Kochbuchautorin], sie ist
       auch bekannt für ihre Offenherzigkeit und ihre Schlagfertigkeit. Dass sie
       keine Konfrontation oder Konsequenzen scheut, weiß man spätestens seit
       ihrem sehr [3][expliziten Schlagabtausch mit US-Präsident Donald Trump]. In
       der Vergangenheit hat sie sich regelmäßig gegen Mom- und Bodyshaming
       gewehrt – Dinge, die auf Instagram alltäglich sind.
       
       Aufmerksame Instagram-Follower:innen konnten in den letzten Wochen schon
       sehen, dass ihr wegen einer Blutung in der Schwangerschaft strenge Bettruhe
       verordnet worden war. Sie blutete aber immer weiter, schuld sei ihre
       „shitty placenta“, wie sie sagte, ein Thema, das ihr schon bei den beiden
       ausgetragenen Schwangerschaften zuvor Probleme gemacht habe. Sie postete
       dennoch weiter ihre Insta-Stories, erzählte, wie es ihr erging, wer sie
       besuchte und was sie an Fresspaketen und Geschenken von Freunden geschickt
       bekam, um ihr die Zeit im Liegen zu erleichtern.
       
       Auf die Frage, wieso sie das teile, sagte sie mal in einer Insta-Story:
       „Ich teile sonst auch alles, wieso dann nicht auch das hier.“ Nun lag sie
       bereits einige Tage im Krankenhaus, bekam Bluttransfusionen, weil die
       Blutung einfach nicht aufhören wollte. Dann die Fehlgeburt. Die Fotos.
       Stunden später twitterte sie: „Auf dem Heimweg vom Krankenhaus ohne Baby.
       Wie kann das wahr sein.“
       
       Ein Satz, den wohl sehr viele Frauen, sehr viele Eltern, nachfühlen können.
       Wie viele genau, darüber gibt es in Deutschland keine soliden Zahlen. Ärzte
       unterscheiden bei einer Fehlgeburt (spontaner Abort) zwischen einem
       Frühabort (bis zur 12. SSW) und einem Spätabort (etwa bis etwa zur 22.
       SSW). Danach, sobald das Baby 500 Gramm wiegt, spricht man von einer
       Totgeburt. Allein die Totgeburten unterliegen in Deutschland einer
       standesamtlichen Meldepflicht: Auf 1.000 Geburten kommen etwa zwei bis drei
       Totgeburten. Zahlen zu Aborten gibt es nur für jene Fälle mit
       [4][ambulanter oder stationärer Behandlung].
       
       Viele Schwangerschaften gehen ab, bevor man überhaupt von ihnen weiß. Oder
       wenn man es gerade erst erfahren hat. Das Risiko eine Fehlgeburt zu
       erleiden, hängt von vielen Faktoren ab: Alter der Eltern, Zahl der
       vorangegangenen Fehlgeburten, Vorerkrankungen, Umwelteinflüssen und einiges
       mehr. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit [5][liegt etwa bei 10-15
       Prozent], ab 35 Jahren bei etwa 20 Prozent und sie steigt mit zunehmendem
       Alter immer weiter. Je nach Studie liegt das Risiko im Alter von [6][45
       Jahren dann schließlich bei 50 bis 75 Prozent].
       
       Nun hat die Debatte darum, ob man so offenherzig über eine Fehlgeburt
       sprechen darf oder soll natürlich mehrere Ebenen. Eine ist etwas verlogen,
       etwa wenn man einer „Influencerin“ vorwirft für Aufmerksamkeit ihr Leben zu
       teilen. Vor allem dann, wenn sie nicht den schönen Schein wahrt. So wie es
       nun auch ausgerechnet die Bild tut, die urplötzlich in einer verstaubten
       Ecke des Redaktionskellers ihr Gefühl für Privatssphäre entdeckt haben
       muss.
       
       Was die Debatte aber auch zeigt ist, dass viele es nicht gewöhnt sind,
       Fehlgeburten zu sehen. Auf Instagram sieht man dafür ständig Bilder von
       abgekämpften Frauen, die gerade erst entbunden haben. Das ist genauso
       intim, der einzige Unterschied ist: Sie zeigen sich in einem vermeintlich
       glücklichen Moment. Es scheint also, nur glückliche Frauen sind auf
       Instagram als zulässig anerkannt. (Zumindest solange sie keine Nippel
       zeigen.)
       
       Jede Person, die schon mal eine Fehlgeburt erleben musste, kennt das
       Gefühl, das wohl auch Teigen haben wird. Die eintretende Leere, die
       erdrückenden Emotionen und der Kopf, der gar nicht mehr hinterherkommt.
       Dieser Schmerz und die irgendwann aufkommenden Fragen: Darf ich eigentlich
       darüber sprechen? Was werden die Leute sagen? Werden sie denken, es war
       meine Schuld? Und ist es überhaupt wichtig, was die denken?
       
       ## Still ertragen
       
       Die meisten Eltern entscheiden sich dazu, nicht über Fehlgeburten zu
       sprechen, das ist ihr gutes Recht. Aber sie sind trotzdem da. Die, die vom
       einen auf den anderen Tag ihre Babys gehen lassen mussten. Die, die sie
       noch eine Weile in ihrem Bauch mit sich rumtragen, weil sie auf einen
       bestimmten Termin warten müssen oder jene, die auf den Tag warten an dem
       auch ihr Körper bemerkt, was los ist. Sie sitzen in der U-Bahn neben einem.
       Sie sind die Arbeitskolleg:in, die Nachbar:in, die Bekannte.
       
       Sie tragen ihren Schmerz die meiste Zeit still durch die Welt. Sie lassen
       die aufdringlichen Kommentare über sich ergehen. Die Fragen, wann denn nun
       endlich ein Kind geplant sei? Ob das Bäuchlein hoffen ließe? Sie ertragen
       das beknackte „Es hat nicht sollen sein“, das grauenhafte „Wer weiß, wofür
       es gut war“ und das vernichtende „Du kannst es ja nochmal probieren“.
       
       Sie ertragen die Hobby-Ärzt:innen, die nach dem Grund und somit der Schuld
       suchen, weil die wiederum nicht in der Lage sind Grundloses zu ertragen.
       Die genau wissen, was man hätte anders machen müssen: dieser Tee, jener
       Sport, weniger Zucker und natürlich – der Stress.
       
       Sie ertragen selbst die absoluten Spezialist:innen, die eine Diskrepanz
       sehen wollen, zwischen der Trauer um eine Fehlgeburt und der Befürwortung
       von Selbstbestimmung bei Schwangerschaftsabbrüchen. Kurzum: Vom Thema
       Fehlgeburten sind viele Menschen betroffen, die schon viel ertragen müssen.
       Vielleicht lässt man sie jeweils mit ihrer Trauer umgehen, wie sie das für
       richtig empfinden. Ob auf Instagram oder auf dem Sofa.
       
       2 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.instagram.com/chrissyteigen/?hl=de
   DIR [2] https://cravingsbychrissyteigen.com/
   DIR [3] https://www.nytimes.com/2019/09/09/us/chrissy-teigen-trump-twitter.html
   DIR [4] https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/216/1921615.pdf
   DIR [5] http://www.saling-institut.de/german/03infomo/01fruehfehl.html
   DIR [6] https://www.bmj.com/content/320/7251/1708.full?view=full&pmid=10864550
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Saskia Hödl
       
       ## TAGS
       
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