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       # taz.de -- Das Tuch als Projektionsfläche
       
       > Die Debatte um eine geforderte Neutralität von Lehrer:innen an Schulen
       > ist vorgeschoben: Es geht einzig und allein um das Kopftuch als
       > islamisches Symbol. Der Streit betrifft darum auch die muslimischen
       > Frauen, die kein Kopftuch tragen
       
   IMG Bild: Ihre Kunst, schreibt die Fotografin, „ermöglicht es mir, das Chaos in mir und um mich besser zu verstehen. Aktuell verändern sich viele Dinge viel zu schnell.“
       
       Von Sarah Zaheer
       
       Darf sie das überhaupt?“ Diese Frage stand im Klassenraum, als die neue
       Deutschlehrerin vor uns stand. Ich ging in die neunte Klasse eines
       Gymnasiums in Berlin. Das Kopftuch kannte ich eher aus familiären Kontexten
       und hatte es davor nie mit meiner Schule assoziiert, an der ich eine der
       wenigen muslimischen Schüler:innen war. Es wurde getuschelt und Halbwissen
       verbreitet, bis meine Deutschlehrerin schließlich selbst aufklärte, dass
       sie Referendarin sei und daher ihr Kopftuch noch aufbehalten dürfe. Damit
       war das Thema für mich und meine Mitschüler:innen eigentlich auch nicht
       mehr so interessant.
       
       Die Debatte um die Neutralität von Lehrer:innen ist vorgeschoben. Dahinter
       steckt eine gesamtgesellschaftliche Ablehnung des Kopftuches als
       islamisches Symbol. Denn während meine Deutschlehrerin mit uns „Andorra“
       von Max Frisch behandelte und über Antisemitismus und Fremdenhass sprach,
       fanden andere Lehrer:innen meine Deutschnote angesichts meines „familiären
       Hintergrunds“ erstaunlich oder attestierten einer Freundin ein
       „gebärfreudiges Becken“. Sie teilten private Meinungen mit der Klasse und
       zwangen uns ihre Moralvorstellungen auf, und auch wenn sie vielleicht keine
       religiösen Symbole an sich trugen, so waren sie doch alles andere als
       „neutral“.
       
       Nein, die öffentliche Auseinandersetzung mit Religion an Schulen und
       öffentlichen Einrichtungen erfolgt nur dann, wenn es um das Kopftuch geht.
       Das ist kein Zufall. Frauen, die Kopftuch tragen, werden noch immer als
       unmündig, unterdrückt und rückständig wahrgenommen. Das Kopftuch wird
       politisiert und mit einer Symbolik aufgeladen, die meist mehr über die
       Sprechenden verrät als über die Trägerin. Das Tuch wird zur
       Projektionsfläche, auf der Vorurteile und zum Teil rassistische
       Zuschreibungen reproduziert werden – und das hat historische Tradition.
       Dass Konservative und Rechte das Kopftuch als Angriff auf die freie
       Demokratie sehen, scheint daher nicht verwunderlich. Doch auch Linke tun
       sich ordentlich schwer mit dem Kopftuch, vor allem manche Feminist:innen.
       
       Dabei entsteht eine Schieflage, da im öffentlichen Diskurs nur noch über
       die Kopftuch tragende Frau gesprochen wird. Gleichzeitig werden Frauen, die
       sich freiwillig dazu entscheiden, ihre Haare zu verdecken, paternalisiert,
       kulturelle und historische Kontexte werden verallgemeinert, alle Formen von
       Hidschab bis Tschador zusammengefasst. Das Bild von muslimischen Frauen in
       Deutschland wird verzerrt. Denn wir sind vielfältig. Einige von uns tragen
       Kopftuch, andere – so wie ich – keins. Wir sind keine politische Kategorie.
       Wir sind Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven. Und
       natürlich sind wir Opfer patriarchaler Gewalt – so wie viele nicht
       muslimische Frauen es auch sind. So wie sich einige Frauen aus
       gesellschaftlichen Zwängen heraus schminken und ihre Beine rasieren, so
       tragen andere auch auf Grund von gewissen familiären oder
       gesellschaftlichen Zwängen ein Kopftuch. Über diese Zwänge und
       Geschlechterbilder sollten wir reden. Aber pauschal Frauen ausschließen,
       die sich eben schminken oder rasieren wollen?
       
       Ich habe es einfacher, denn ich werde als „coole“ Muslimin wahrgenommen,
       weil ich Sommerkleider trage, auf Partys gehe und mich für Feminismus
       einsetze. Wenn Menschen dann doch erfahren, dass ich aus einer muslimischen
       Familie komme, werde ich oft gefragt: „Aber ihr seid nicht so streng,
       oder?“ Gern gefolgt von: „Trägt deine Mutter eigentlich Kopftuch?“
       Mitschwingend die leise Hoffnung, dass ich lache und verdeutliche, wie sehr
       ich mich davon abgrenze. Und lange Zeit habe ich den Menschen diesen
       Gefallen getan und mich bewusst distanziert. Ich wollte nicht ständig
       darüber reden, was welche Symbole für mich bedeuten. Stereotype über
       muslimische Frauen, die Kopftuch tragen, habe ich dadurch auch selbst
       verinnerlicht – und das, obwohl ich viele Frauen und ihre vielfältigen
       Beweggründe kenne.
       
       Doch nur weil mich die ständige Debatte um das Kopftuch ermüdet, heißt das
       nicht, dass wir nicht darüber sprechen sollten, welche Rolle Religion in
       unserer Gesellschaft einnehmen soll. Vor allem müssen aber die zu Wort
       kommen, um die es eigentlich geht. Um zu verstehen, welche diversen Gründe
       es haben kann, ein Kopftuch zu tragen. Um einen Diskurs zu ermöglichen, der
       nicht aufgeladen ist von politischen Interessen und Vorurteilen.
       
       In Bezug auf Lehrer:innen ist es vielleicht sinnvoller, darüber zu
       diskutieren, welche Eigenschaften gute Pädagog:innen haben sollten. Und
       inwiefern Neutralität ein Gut ist, an dem es sich festzuhalten lohnt.
       Brauchen wir nicht eher starke Vorbilder, die sich in unterschiedlichen
       kulturellen Kontexten verorten? Die eine diverse Gesellschaft so abbilden,
       wie sie ist?
       
       Kopftuch tragende Frauen haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen,
       dass Sie alles andere als unpolitisch sind. Sie haben in Gerichtsverfahren
       und Antidiskriminierungsstellen ausgeharrt und für Ihre Rechte gekämpft –
       und Recht bekommen. Das zeigt sich in dem Fall der Quereinsteigerin in
       Berlin, die auf Grund ihres Kopftuchs pauschal an einer Berliner Schule
       abgelehnt wurde, was das Bundesarbeitsgericht als unzulässig beurteilte. Es
       zeigt sich genauso an der Hamburger Schülerin Meriam B., die in einer
       Edeka-Filiale auf Grund ihres Kopftuches nicht eingestellt wurde und eine
       hohe Entschädigungssumme von Edeka bekam.
       
       Ihren Kampf gegen Stigmatisierung tragen Kopftuchträger:innen oft allein
       aus. Dabei sollten andere marginalisierte Gruppen sie gut verstehen können.
       Denn sie kennen diese Erfahrung der Ohnmacht, wenn sie ungleich behandelt
       werden, wenn ihnen der Zugang zu akademischen Berufen verwehrt wird, wenn
       sie unter Druck gesetzt und ihre Kompetenzen infrage gestellt werden.
       
       Meine Deutschlehrerin aus der neunten Klasse hat die Schule nach ihrem
       Referendariat verlassen. Zugegeben, sie war keine großartige Pädagogin und
       noch wenig erfahren im Umgang mit Teenagern. Wir haben über sie in den
       Pausen gelästert, und wenn ich heute mit meinen Schulfreund:innen spreche,
       können wir uns noch immer über die schlechten Noten für unsere
       „Andorra“-Lesetagebücher aufregen. Doch sie war einfach eine Lehrerin für
       uns. Dass sie ihr Kopftuch dafür hätte ablegen müssen, hätten wir niemals
       gewollt.
       
       Sarah Zaheer, 23, lebt in Hamburg und studiert Politikwissenschaft,
       Journalistik und Kommunikationswissenschaft
       
       17 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Zaheer
       
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