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       # taz.de -- Corona-Entwicklung in Deutschland: Würde und Virus
       
       > In der zweiten Welle sollten wir brav allen Regeln folgen und ums
       > Wesentliche richtig streiten: das Abwägen von Freiheit und Sicherheit.
       
   IMG Bild: Ist nach dem Lockdown vor dem Lockdown? Coronateststation in München
       
       Halten wir einen zweiten [1][Lockdown] durch? Diese Frage mögen sich gerade
       viele stellen, angesichts steigender Infektionszahlen. Aber sie ist
       irrelevant. Es wird einen zweiten Lockdown geben, wenn sich das
       Sars-CoV-2-Virus weiter so ausbreitet wie in den letzten zwei Wochen. Denn
       in der zweiten Welle gilt die grundsätzliche Logik der ersten Welle: Die
       [2][Zahl der Infizierten] verdoppelt sich stetig, aktuell im
       10-Tage-Rhythmus.
       
       Heute mag die Lungenkrankheit Codiv-19 besser zu behandeln sein als im
       April, aber echte Therapien gibt es nicht. Überfüllte Intensivstationen,
       ein Kollabieren des [3][Gesundheitsapparats] – dazu kann es immer noch
       kommen. Allerdings gelten heute andere Vorzeichen als im Frühling. Niemand
       hat gezählt, wie viele Existenzen der erste Lockdown einforderte, wie viele
       Menschen verzweifelt sind, wie viele Firmen so schwer geschädigt wurden,
       dass sie nicht mehr auf die Beine kommen.
       
       Und das jetzt noch mal? Wem es davor graut, der hat nicht einfach den
       moralischen Kompass verloren. Vielleicht ist er oder sie auch einfach
       fertig. Deshalb braucht es ein Ringen darum, wer jetzt welche Last zu
       tragen hat. Müssen Kitas und [4][Schulen] flächendeckend dicht sein,
       Unternehmen komplett schließen, alle Friseur*innen zu Hause bleiben?
       
       Lehren aus dem ersten Lockdown ziehen und darauf insistieren, zumindest zu
       untersuchen, ob Hygiene- und Schutzmaßnahmen so wirken, dass eben nicht
       mehr pauschal das gesamte Leben lahmgelegt werden muss – das ist eine
       absolut legitime Position in den kommenden Wochen. Streitet darum! Aber
       bitte in vollem Bewusstsein möglicher Konsequenzen: Jedes Offenlassen ist
       ein Experiment mit Menschenleben. Masken, Abstand halten, Lüften,
       Hygienekonzepte, das bringt was, ja.
       
       Aber niemand weiß, wer sich daran hält, wie sich Menschen verhalten werden,
       wenn sich eine allgemeine Pandemieermüdung breitmacht und wenn es zu kalt
       für ein Treffen im Park ist. Was zwar niemand ausspricht, aber trotzdem
       passiert: Viele hoffen, dass die zweite Welle mit einem Minimum an
       Einschränkungen zu stoppen ist. Dass die Zahl der Opfer irgendwie in einem
       gefühlt akzeptablen Bereich bleibt.
       
       ## Was passiert, wenn sich die Pandemieermüdung breitmacht
       
       Dass der Tod durch Covid-19 noch als allgemeines Lebensrisiko durchgeht und
       nicht als gesamtgesellschaftliche Schande. Diese allgemeine Stimmung
       scheint sich einzupendeln bei: Solange genug Intensivbetten frei sind, ist
       Covid-19 eben eine Krankheit. Das ist traurig, aber aushaltbar. Die
       Konsequenz ist, dass Deutschland versucht, die Pandemie sanft
       runterzubremsen – ungefähr so wie ein Auto vor der roten Ampel.
       
       Genau das passiert, und zwar mit dem kompletten Instrumentarium eines
       freiheitlich-demokratischen Landes. Mal kippt ein Gericht
       Beherbergungsverbote, mal nicht. Mal gelten sie als legitime
       Präventionsmaßnahme, weil man in einer Pandemie nicht auf die letzten
       Beweise warten kann, ob eine Maßnahme überhaupt einen Effekt hat. All das
       ist ein Ringen darum, in einer Ausnahmesituation die beiden größten
       Gegensätze, die man als Gesellschaft hat, auszutarieren: Freiheit und
       Sicherheit. Würde und Virus.
       
       Wenn man epidemiologische Empfehlungen neben das Grundgesetz legt, dann
       kommt eben so etwas raus: Bei 35 Infizierten pro 100.000 Einwohner*innen,
       da dürft ihr noch 15 Leute zur Party einladen. So einer der Beschlüsse des
       Bund-Länder-Treffens diese Woche. Klingt absurd, willkürlich. Die 16.
       Person am Abend vor die Tür zu setzen ändert doch nichts. Doch genau das
       tut sie, wenn Stochastik auf Lebensrealität trifft: Die Wahrscheinlichkeit
       von Infektionen sinkt insgesamt, wenn es weniger Kontakte gibt.
       
       Man akzeptiere also solche Einschränkungen bei der Party, stoisch, spießig
       und gehorsam. Und man streite ehrlich um das, was wirklich wichtig ist,
       nämlich: Wie wir die Freiheit sinnvoll aufteilen, die das Virus uns in den
       nächsten Wochen noch lässt.
       
       17 Oct 2020
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arzt
       
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