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       # taz.de -- Urteil zur Vorratsdatenspeicherung: Bollwerk für Datenschutz bröckelt
       
       > Der Europäische Gerichtshof lässt die anlasslose Speicherung von
       > IP-Adressen zu – und erfüllt damit die Hauptforderung der Polizei.
       
   IMG Bild: Datenströme dürfen nun teilweise von Polizeibehörden genutzt werden
       
       Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat seine strikt ablehnende
       Haltung zur Vorratsdatenspeicherung aufgeweicht. Künftig können die
       IP-Adressen der gesamten Bevölkerung anlasslos gespeichert werden. Bei
       akuter Gefahr für die nationale Sicherheit können auch Telefonverbindungs-
       und Standortdaten aller Nutzer auf Vorrat registriert werden.
       
       Der Streit um die Vorratsdatenspeicherung (VDS) von Telefon- und
       Internetdaten war in den letzten 15 Jahren eines der zentralen
       sicherheitspolitischen Themen in Deutschland und Europa. Die aktuelle
       EuGH-Entscheidung markiert einen wichtigen Wendepunkt.
       
       Als Vorratsdatenspeicherung bezeichnet man die anlasslose Speicherung der
       Telefon- und Internetverbindungsdaten der gesamten Bevölkerung. Die
       Provider müssen dabei festhalten, wer wann wen angerufen, angemailt oder
       angesimst hat.
       
       Sie müssen registrieren, wer mit seinem Smartphone wann in welcher
       Funkzelle eingeloggt war. Und sie müssen speichern, welche IP-Adresse
       welchem Kunden in welcher Zeitspanne zugewiesen war. Bei diesen
       Speicherungen sollte ein riesiger Datenfundus entstehen, auf den die
       Polizei zur Aufklärung und Verhütung schwerer Straftaten zugreifen kann.
       
       ## Strenger als die Polizei erlaubt
       
       Tatsächlich wurde die VDS in Deutschland aber noch nie praktiziert, obwohl
       sie schon zwei Mal per Gesetz eingeführt worden war. [1][Das erste Gesetz
       von 2007 stoppte 2010 das Bundesverfassungsgericht]. Es lehnte die VDS zwar
       nicht generell ab, forderte aber einen besseren Schutz der
       zwangsgespeicherten Daten.
       
       Der zweite Versuch von 2015 steht immer noch im Gesetzblatt, doch die
       Bundesnetzagentur verzichtete 2017 wegen der rigiden EuGH-Rechtsprechung
       auf die Durchsetzung der gesetzlichen Pflicht.
       
       Tatsächlich erwies sich der EuGH jahrelang als echtes bürgerrechtliches
       Bollwerk gegen die anlasslose Massenspeicherung. 2014 erklärte der
       Luxemburger EU-Gerichtshof die zugrundeliegende EU-Richtlinie für nichtig,
       weil sie unverhältnismäßig sei.
       
       2016 beanstandete der EuGH zwei nationale Gesetze in Schweden und
       Großbritannien aus denselben Gründen. Der EuGH war strenger als jedes
       nationale Gericht inklusive dem deutschen Bundesverfassungsgericht.
       
       ## EU-Staaten vs. Bürgerrechtler
       
       Dementsprechend heftig war der Widerstand der EU-Staaten. Seit Jahren wurde
       überlegt, wie man die EuGH-Rechtsprechung durch neue Richtlinien oder
       Vertragsänderungen aushebeln kann. In vielen Staaten wurde die EuGH-Linie
       auch einfach ignoriert. Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung blieben in
       Kraft. Die EU-Kommission leitete auch keine Verfahren wegen Missachtung von
       EU-Recht ein.
       
       Dass der EuGH nun über die VDS-Gesetze von Großbritannien, Frankreich und
       Belgien entscheiden musste, beruht auf Klagen von
       Bürgerrechtsorganisationen wie [2][„Privacy international“] und [3][„la
       Quadrature du Net“]. Die Hoffnung aller EU-Staaten war groß, dass der EuGH
       die Verfahren zum Anlass nimmt, seine Position zu revidieren. Das hat er
       nun teilweise auch getan.
       
       Zwar betont der EuGH nochmals, dass die flächendeckende Speicherung von
       Telefon- und Internetverkehrsdaten ein schwerer Grundrechtseingriff ist,
       auch wenn dabei keine Gesprächsinhalte festgehalten werden.
       
       Der EuGH bekräftigte, dass pauschale Vorratsdatenspeicherungen
       grundsätzlich unzulässig sind, weil die Betroffenen sich ja nicht konkret
       verdächtig gemacht haben. Der EuGH stützte dies, wie schon 2016, auf die
       [4][E-Privacy-Richtlinie der EU] und die [5][Europäische
       Grundrechte-Charta].
       
       ## Hauptinteresse: IP-Adressen
       
       Dann aber folgen mehrere Ausnahmen, die zeigen, dass der EuGH eben doch dem
       Druck nachgegeben hat. So akzeptiert der Gerichtshof nun eine generelle
       anlasslose Speicherung der IP-Adressen, die bei jeder Einwahl ins Internet
       neu vergeben werden. Eine IP-Adresse besteht nur aus Ziffern, zum Beispiel
       217.238.19.37, und kann nur mithilfe der Internetfirmen einem konkreten
       Nutzer zugeordnet werden.
       
       Der EuGH begründet seinen Positionswechsel damit, dass bestimmte Delikte
       wie die Verbreitung von Kinderpornografie fast nur mithilfe der VDS
       aufzuklären sind. Der EuGH erfüllt damit die Hauptforderung der Polizei,
       die vor allem an den IP-Adressen interessiert war.
       
       Eine generelle Vorratsdatenspeicherung, also auch von Telefon- und
       Standortdaten, soll im Fall einer „ernsthaften Bedrohung der nationalen
       Sicherheit“ möglich sein, so der EuGH. Zu denken ist etwa an Situationen
       wie in Frankreich, als im November 2015 nach einer islamistischen
       Anschlagsserie der nationale Notstand ausgerufen wurde.
       
       Der EuGH betont allerdings, dass das Vorliegen eines Notstandes vor einem
       nationalen Gericht überprüfbar sein muss und nur für begrenzte Zeit
       angenommen werden kann. Für den Bereich der allgemeinen Kriminalität
       wiederholen die EuGH-Richter ihren Hinweis von 2016, wonach „gezielte“
       Vorratsdatenspeicherungen bei bestimmten Personengruppen und in bestimmten
       Gegenden möglich seien.
       
       Diskriminierend dürfe eine solche Teil-VDS aber nicht sein, so die Richter.
       Es wäre also nicht möglich, nur die Daten aller Muslime zu speichern.
       
       ## Keine zeitliche Grenze
       
       Das deutsche Gesetz von 2015 muss nun also zumindest überarbeitet werden.
       Telefon- und Standortdaten dürfen nicht auf Vorrat gespeichert werden. Bei
       IP-Adressen wäre aber eine Speicherung möglich, und zwar sogar länger als
       die derzeit laut Gesetz vorgesehenen zehn Wochen; der EuGH nennt hier keine
       konkrete Grenze.
       
       Ob die Bundesregierung sofort reagieren wird, ist noch unklar.
       Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) wies darauf hin, dass der EuGH
       zunächst nur über Gesetze aus Großbritannien, Frankreich und Belgien
       entschieden hat und eine Entscheidung zum deutschen Gesetz noch aussteht.
       Wenn die Bundesregierung hierauf warten will, dürften tatsächlich noch
       einige Monate vergehen. Dass der EuGH dann anders entscheidet, ist
       allerdings kaum zu erwarten.
       
       Patrick Breyer, Europaabgeordneter der Piraten, kritisierte das Urteil:
       „Unter dem massiven Druck der Regierungen und Eingriffsbehörden haben die
       Richter unseren Schutz vor verdachtsloser Kommunikationserfassung in Teilen
       aufgegeben.“
       
       Andere Bürgerrechtler ignorierten jedoch den Sinneswandel des EuGH:
       „Goodbye Vorratsdatenspeicherung“, [6][twitterte Ex-Justizministerin Sabine
       Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)]. Und der grüne [7][Innenexperte
       Konstantin von Notz erklärte] „Die pauschale anlasslose
       Vorratsdatenspeicherung ist mausetot.“
       
       6 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2010/03/rs20100302_1bvr025608.html
   DIR [2] https://privacyinternational.org/
   DIR [3] https://www.laquadrature.net/en/
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Datenschutzrichtlinie_f%C3%BCr_elektronische_Kommunikation
   DIR [5] https://www.europarl.europa.eu/germany/de/europ%C3%A4isches-parlament/grundrechtecharta
   DIR [6] https://twitter.com/sls_fdp/status/1313401129095647234?s=20
   DIR [7] https://twitter.com/KonstantinNotz/status/1313425933127352320?s=20
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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