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       # taz.de -- Louise Glück und der Literaturnobelpreis: Ein Preis für eine von vielen
       
       > Weltweit kann Glück nur als eine von vielen sehr guten Lyrikerinnen
       > gelten. Trotzdem ist es schön, dass sie nun mehr LeserInnen findet.
       
   IMG Bild: Schreibt gewiss keine schlechten Gedichte: Ausgezeichnete Lyrikerin Louise Glück
       
       Wie schön, dass es eine Lyrikerin geworden ist: Prosa ist so dominant. Aber
       [1][Louise Glück? Den Literaturnobelpreis?] Nein, nein, das sind gewiss
       keine schlechten Gedichte. Es gibt auch ein paar Verse, die muss man
       einfach lieben, etwa „Circe’s Power“: Da spricht das lyrische Ich in der
       Rolle der Zauberin aus der Odyssee, Sie wissen schon, die mit den
       Schweinen, und sagt: „I never turned anyone into a pig. / Some people are
       pigs; / I make them look like pigs“ – also sinngemäß: Ich habe nie jemanden
       in ein Schwein verwandelt. / Manche Leute sind Schweine; / Ich lasse sie
       aussehen wie Schweine.“
       
       Fein gebaut auch, streng wie ein Syllogismus, und dann die Allegorese: Sie
       sei traurig über die Welt des Angedichteten, des Eroberers und des
       Irrfahrers, sagt diese Circe, „that lets the outside disguise the inside“.
       Das Wesen sollte doch bitte schön mit dem Schein nicht in Widerspruch
       geraten – ein frommer Wunsch. Hat wahrscheinlich jeder schon mal gewünscht.
       Ein Justemilieu-Wunsch.
       
       Bloß: Ist das wirklich alles, was sich von Dichtung derzeit erwarten lässt?
       Oder spricht aus dieser Wahl nicht zu sehr der Wunsch der Akademie, die
       eigene Krise durch eine Kandidatin zu überwinden, gegen die keiner etwas
       hat? Weil ihr Konsensfeminismus fast nie aneckt? Selbst ihr beim Erscheinen
       skandalisiertes Gedicht „The Drowned Children“, das von der
       [2][Notwendigkeit, Kinder zu ertränken], handelt, hat sich längst als
       lesebuchkompatibel erwiesen.
       
       Ehrlich gesagt, scheint das die Wahl bestimmt zu haben: Glück widmet sich
       bevorzugt traditionellen Lyrikthemen, „Betrug, Sterblichkeit, Liebe und
       Verlust“, wie der Kritiker Donald Bogen einmal resümiert hat. Er meinte das
       lobend. Und das sind ja weiß Gott alles ernste, allgemein menschliche
       Probleme, auch wenn sie sich in Glücks Ausgestaltung sehr klar einer
       bestimmten Klasse zuordnen lassen, die nun mal in den USA weiß ist.
       
       Ach!, die wichtigen lyrischen Stimmen ihrer Generation in den USA, Judith
       Ortíz Cofer, Adrienne Rich oder Audre Lorde hatten das Politische des
       Privaten so viel dringlicher besungen. Nur sind diese Radikalen halt schon
       gestorben, bevor Mann sie hätte bejubeln wollen. Weltweit kann Glück erst
       recht nur als eine von vielen sehr guten Lyrikerinnen gelten, die, fest
       verankert in einer von Europa ausgehenden Tradition, wie nur noch wenige
       die Klaviatur der griechischen Mythologie beherrscht. Es ist schön, dass
       sie nun mehr Leserinnen findet, und fast lustig, dass der deutsche
       Buchhandel davon kaum profitieren wird. Aber sicher ist: Die Akademie hat
       mit ihrer Wahl eine vergangenheitsweisende Entscheidung gefällt.
       
       8 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Literaturnobelpreis-fuer-Louise-Glueck/!5719030
   DIR [2] https://www.poetryfoundation.org/poems/49599/the-drowned-children
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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