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       # taz.de -- Experten über Psychiatrie in Bremen: „Ein Rückschritt in die Siebziger“
       
       > Die Reform der Psychiatrie hin zu mehr ambulanter Versorgung ist seit
       > 2013 beschlossen, aber nicht realisiert. Ein Gespräch über die Gründe.
       
   IMG Bild: Das Kloster Blankenburg: Bis 1988 eine Psychiatrie als Außenstelle des Klinikums Bremen-Ost
       
       taz: 2013 hat Rot-Grün beschlossen, dass die psychiatrische Versorgung in
       Bremen [1][dezentraler stattfinden und stärker ambulant ausgerichtet] sein
       soll. Was ist seither passiert, Herr Pramann? 
       
       Klaus Pramann: Die Debatte gibt es schon seit dem Ende der Siebzigerjahre.
       Der Knackpunkt ist aber: Die ambulante Versorgung wurde immer als ein
       zusätzliches Angebot zur der im Wesentlichen unveränderten, stationären
       Psychiatrie gesehen. Dagegen hatte niemand was – außer der Kostenträger.
       Eine Ambulantisierung, mit der auch ein Abbau der stationären Versorgung
       einhergeht, setzt sich nur schwer durch, weil sie auf gegenläufige
       Interessen stößt. Ein Krankenhauskonzern wie die Geno, die sich aus der
       Belegung stationärer Betten finanziert, gibt das nicht gern her. Zwar
       wurden im Klinikum Bremen-Ost 20 Betten abgebaut. Die dienten aber der
       Versorgung suchtkranker Menschen und waren sowieso nicht mehr belegbar. Die
       Geno bewegt sich eher in Richtung Zentralisierung und Spezialisierung – das
       ist ein Rückschritt in die Psychiatrie der Siebziger- und Achtzigerjahre.
       
       Scheitert es nur an den finanziellen Interessen des Klinikums Bremen-Ost? 
       
       Auch die Fachwelt in der Klinik selbst hat große Schwierigkeiten,
       umzudenken! Jene, die klinisch arbeiten, stehen meist auf dem Standpunkt,
       dass sie wirklich wissen, was Leute in schweren psychischen Krisen
       brauchen. Sie glauben oft, dass jene, die im Lebensumfeld der Menschen
       diese behandeln wollen, im Grunde genommen naiv sind. In einer Institution
       wird institutionell gedacht.
       
       Sie sagen: Mindestens zwei Drittel der psychiatrischen Versorgung, die
       jetzt stationär passiert, könnte ambulant besser sein? 
       
       Ein Drittel der Krisenbetten sollen nach unseren Vorstellungen als solche
       erhalten bleiben – mit dem Ziel, dass es noch weniger werden.
       
       Heiko Schwarting: Ich bin bis 2004 häufig im Klinikum Bremen-Ost und
       anderen Kliniken gewesen. Und ich bin felsenfest der Überzeugung: Wenn es
       früher eine ganzheitliche und sozialraumorientierte Behandlung hier im
       Quartier gegeben hätte, eine Behandlung aus einem Guss – dann wären mir
       sehr viele Aufenthalte in der Klinik erspart geblieben. Ohne diesen Ansatz
       ist eine Behandlung langfristig gesehen oft zum Scheitern verurteilt.
       
       [2][Sie fordern nun ein „Krisenhaus“] als ersten Schritt zu einem „Zentrum
       für seelische Gesundheit“. Was muss man sich darunter vorstellen? 
       
       Klaus Pramann: Wir wollen erreichen, dass im Bremer Westen ein Ort
       geschaffen wird, der Menschen die Möglichkeit bietet, in akuten psychischen
       Krisen behandelt und begleitet werden zu können, ohne dafür in die Klinik
       eingewiesen werden zu müssen. Zu so einem Zentrum gehört ein Krisenhaus mit
       einer kleinen Anzahl stationärer Betten, aber auch ein lebensumfeldnaher
       Kriseninterventionsdienst und eine Akut-Tagesklinik. Es wäre eine
       niedrigschwellige und flexible Lösung, bei der man nicht erst formell
       eingewiesen werden müsste wie bei einer Klinik.
       
       Heiko Schwarting: Auch Leute, bei denen sich abzeichnet, dass sie
       vielleicht in eine Krise kommen, würden dort aufgenommen – selbst wenn sie
       keine Versicherungskarte haben, Obdachlose und Migranten etwa.
       
       Klaus Pramann: Die Zahl der Zwangseinweisungen wird dann deutlich zurück
       gehen.
       
       Nun gab es bis vor kurzem das „Rückzugshaus“ für Menschen in psychischen
       Notlagen – das war ja ambulant und niedrigschwellig: Woran ist das
       gescheitert? 
       
       Vor allem am Kostendruck. Die Krankenkassen wollten ein billigeres Konzept.
       Zuletzt war nur noch die AOK an der Finanzierung beteiligt, bis dann das
       endgültige Aus durch Corona kam.
       
       Was spricht dann dafür, dass die Kassen ein Zentrum für seelische
       Gesundheit zahlen? 
       
       Es ist etwas ganz anderes – auch das Rückzugshaus war ja nur eine Ergänzung
       zur unveränderten stationären Psychiatrie in Bremen-Ost. Dadurch wurden
       keine Klinikbetten abgebaut. Hinter unserem Konzept steht eine ganz andere
       Haltung, eine nicht-institutionalisierte Herangehensweise. Wir setzen auf
       offenen Dialog und wollen die Menschen vor Ort abholen.
       
       Und wie soll das finanziert werden? 
       
       Bis jetzt werden die Einzelkontakte und das belegte Bett pro Tag bezahlt.
       Unser Ansatz geht aber davon aus, dass ein Budget für die gesamte
       Versorgung einer Region zur Verfügung steht.
       
       Braucht es für Ihr Modell nicht viel mehr Personal? 
       
       Nein. Es kommt mit genauso vielen Leuten aus wie das bisherige Konzept.
       
       Viele wenden aber ein, dass man schwere Krankheitsbilder nicht ambulant
       behandeln kann. 
       
       Das stimmt aber nicht! Das Leben auf einer Station schafft eine ganz eigene
       Dynamik. Das ist ein Riesenunterschied zu einer Versorgung im gewohnten
       sozialen Umfeld, die selbst bei schweren Krankheitsbildern zu deutlich
       geringeren Krankheitsdynamiken führt. Schon alleine dass es ein Krisenhaus
       gibt, verhindert oft den Gang in eine Klinik, wie sich etwa in Berlin
       zeigt. Und wer will schon in eine Klinik, wo man in der Regel an Diagnosen,
       Medikamenten und Symptomverminderungen orientiert ist? Unser Konzept ist
       keine Träumerei, sondern im Wesentlichen die Zusammenfassung der
       Erfahrungen, die andernorts gemacht wurden. Und unser Zielpublikum sind
       nicht jene mit einer leichten Depression, sondern die, die schwere, akute
       oder chronische psychische Erkrankungen und komplexe Krankheitsverläufe
       haben. Die institutionelle Psychiatrie bringt ein Menschenbild mit sich,
       das selbst krank ist.
       
       Heiko Schwarting: Viele wollen nicht mehr nach Bremen-Ost, weil sie den
       Eindruck haben, dass die Klinik ihnen schadet und nicht gut tut.
       
       Haben Sie keine Angst, dass die NachbarInnen im Quartier Ihr Zentrum für
       seelische Gesundheit ablehnen? 
       
       Nein! Das gleiche Argument hatten wir auch schon bei der Auflösung der
       Anstalt im Kloster Blankenburg. Inzwischen haben wir seit langem gerade im
       Bremer Westen eine recht gute Akzeptanz.
       
       15 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Psychiatrie-in-Bremen/!5569256
   DIR [2] https://bpe-online.de/veranstaltung/fachtag-psychiatrie-bremen/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Zier
       
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