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       # taz.de -- Wissenschaftlerin zum Kopftuchverbot: „Ein Klima des Misstrauens“
       
       > Lehrerinnen mit Kopftuch werden in den Schulen oft angefeindet. Die
       > Bremer Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakaşoğlu vermisst
       > Differenzierung.
       
   IMG Bild: „Welche Vorurteile haben wir als Gesellschaft im Kopf?“, fragt Yasemin Karakaşoğlu
       
       taz: Frau Karakasoglu, eigentlich hatte ich Sie angefragt, weil ich auf der
       Suche nach einer Lehrerin mit Kopftuch war, die über ihre Erfahrungen an
       einer öffentlichen Schule sprechen will. Warum ist es so schwierig, eine
       Lehrerin zu finden, die reden will? 
       
       Yasemin Karakaşoğlu: Zum einen sind es nicht viele, die man fragen kann:
       Die jahrelange Politik der Abschreckung hatte da ganz offensichtlich einen
       Effekt. Zum anderen sind die, die übrig geblieben sind, oft durch einen
       jahrelangen Kampf gegangen. Sie mussten viele Hürden überwinden, um ihren
       Berufswunsch ausüben zu können. Die sagen oft: Ich möchte jetzt auch mal
       meine Ruhe haben und nicht immer nur über dieses Thema definiert werden.
       
       Was meinen Sie mit „Politik der Abschreckung“? 
       
       Zum Beispiel die Frage: Dürfen Praktikantinnen aktiv ihren praktischen Teil
       in den Schulen absolvieren, oder müssen sie stumm im Hintergrund bleiben?
       Das wurde ja auch in Bremer Schulen viel diskutiert. Dann erleben sie
       abfällige Bemerkungen im Lehrerzimmer, nach dem Motto: „Jetzt kommt da
       sogar schon eine mit Kopftuch!“ Und es gibt Ängste bei den Schulleitungen,
       dass Lehrerinnen mit Kopftuch zu einer religiösen Fundamentalisierung der
       Schülerschaft beitragen könnten; dass sie bei Schülerinnen, die kein
       Kopftuch tragen wollen, den Druck, der möglicherweise auch aus dem
       Elternhaus kommt, verstärken. Insgesamt begegnet Lehrerinnen mit Kopftuch
       ein Klima des Misstrauens und der Sorge, bis hin zu offener
       Diskriminierung. Das muss man erst mal ertragen können.
       
       Die Berliner Bildungsverwaltung, die von einer abgelehnten Lehrerin
       verklagt worden ist, hat vor dem Bundesarbeitsgericht vor allem [1][mit dem
       Schulfrieden argumentiert]. Der sei durch das Kopftuch in Gefahr. Stört so
       ein Klima des Misstrauens den Schulfrieden nicht schon ganz erheblich? 
       
       Ich glaube, wir müssen jetzt darüber nachdenken: Welche Vorurteile haben
       wir als Gesellschaft im Kopf? Ich bin als Expertin in den Kopftuch-Prozess
       2003 am Bundesverfassungsgericht einbezogen worden, und ich habe damals
       bereits gesagt: Das Kopftuch ist nicht pauschal ein Symbol für irgendetwas,
       entsprechend differenziert muss man auch die Gruppe sehen, die es trägt. Es
       gibt sehr verschiedene Gründe, warum Frauen Kopftuch tragen, und das ist
       noch lange kein Zeichen dafür, dass jemand durch seine persönliche Haltung
       den Schulfrieden stört.
       
       Was ist das eigentlich, der Schulfrieden? 
       
       Das ist ein sehr nebulöser Begriff. Er suggeriert, dass Schulen Orte sein
       müssen, an denen keine Konflikte stattfinden. Aber das ist falsch. Im
       Gegenteil: Wir brauchen Schule als Orte, an denen gegensätzliche Positionen
       auf angemessene Weise verhandelt werden können. Und das sollen Schüler auch
       erleben. Es ist absurd, an den Schulen bestimmte gesellschaftlich
       kontroverse Themen gar nicht erscheinen lassen zu wollen. Hinzu kommt, für
       viele Schüler ist das Kopftuch etwas, das ihnen im Alltag ganz
       selbstverständlich begegnet. Und in der Schule dann plötzlich nicht? Ich
       könnte mir vorstellen, dass man mit diesem Thema sehr viel besser offen
       umgeht, indem man unterschiedliche Positionen zur Sprache bringt. Und das
       kann man lernen.
       
       Wie geht man als Schule so mit dem Thema um, dass der Schulfriede gewahrt
       bleibt? 
       
       Wie gesagt, das Kopftuch ist nicht gleichzusetzen mit einer radikalen
       politischen oder religiösen Einstellung, die den Schulfrieden bedroht. Und
       es gibt ein Recht darauf, es zu tragen, als Muslimin, als Mensch. Da gibt
       es auch das Recht auf eine Grundoffenheit der anderen, dass ich so
       angenommen werde, wie ich bin.
       
       Das kann man sich wünschen. Aber wie erreicht man das – dass die Ängste in
       den Köpfen nicht den Schulfrieden gefährden? 
       
       Da sehe ich natürlich auch die Schulleitungen in der Pflicht, ein Klima der
       Wertschätzung und des Respekts zu etablieren. Es ist doch absurd, auf Grund
       von Unterstellungen gegenüber einer bestimmten Gruppe genau diese mit
       Ausgrenzung zu bestrafen – und zwar bevor irgendetwas konkret vorgefallen
       ist, wohlgemerkt. Erst mal muss unterstellt werden, dass es der Person
       nicht darum geht, anderen eine bestimmte Weltsicht aufdrücken zu wollen,
       genauso wie das im Übrigen auch für alle anderen Weltanschauungen und
       politischen oder religiösen Überzeugungen gilt.
       
       Die [2][Muslimin und Moscheegründerin Seyran Ateş], die beim jüngsten
       Prozess die Berliner Bildungsverwaltung als Anwältin vertreten hat,
       argumentiert, das Kopftuch stehe für bestimmte moralische Vorstellungen.
       Dem widersprechen Sie, vermute ich. 
       
       Ja. Wenn Frau Ateş das so meint, dann ist das ihre Sicht darauf. Aber die
       wissenschaftliche Sicht darauf ist, das habe ich damals in meiner Studie
       dargelegt, und weitere Studien anderer Wissenschaftler*innen bestätigen
       das: Es kann nicht so einfach vom Äußeren auf eine ganz bestimmte Weltsicht
       geschlossen werden. Natürlich ist jede Art von Kleidung immer auch ein
       Statement. Aber ganz konkret das Kopftuch kann zum Beispiel auch ein
       Statement des Widerstands sein – gegen Assimilationsdruck seitens der
       Mehrheitsgesellschaft, gegen [3][Rassismuserfahrungen als Muslima] im
       Alltag.
       
       Können Sie nicht nachvollziehen, dass viele ein ungutes Gefühl haben, weil
       sie das Kopftuch mit einer rigiden Sexualmoral und mit der Benachteiligung
       von Frauen in Verbindung bringen und das in einer Vorbildfunktion, die
       Lehrerinnen nun mal haben, problematisch finden? 
       
       Da sage ich: Das Problem ist in den Köpfen derjenigen, die so
       argumentieren. Es ist eine von eigenen Vorannahmen geprägte, pauschale
       Sicht auf ein sichtbares Bekenntnis zum Islam. Das ist problematisch, nicht
       die Entscheidung von Frauen für das Kopftuch. Ich bin da ganz auf einer
       Linie mit dem Bundesarbeitsgericht: Es ist nicht zulässig, hier
       Vorverurteilungen vorzunehmen.
       
       Eine Lehrerin mit Kopftuch ist keine Fundamentalistin. Aber auch
       Fundamentalistinnen tragen ein Kopftuch. 
       
       So ist es. Wir können es uns nicht einfach machen, indem wir das
       gleichsetzen. Natürlich: Wenn sich das Handeln einer Lehrerin mit Kopftuch
       an einer Schule als Problem erweist, dann muss die Schulleitung, wie in
       jedem anderen Fall problematischer Lehreräußerungen, handeln. Aber noch
       mal: Die pauschale Vorverurteilung ist gesetzlich nicht zulässig, das haben
       wir jetzt gehört.
       
       In vielen Bundesländern darf das Kopftuch an öffentlichen Schulen getragen
       werden, seit das Bundesverfassungsgericht 2015 ein generelles
       Kopftuchverbot für Lehrerinnen für unzulässig erklärt hat. Hat man mal
       wissenschaftlich begleitet, wie friedlich der Unterricht mit Kopftuch
       läuft? 
       
       Ich kenne keine Begleitstudien in dem Sinne. Aber man kann feststellen: Es
       ist bisher kein Fall öffentlich geworden, dass irgendwo der Schulfriede
       gestört worden sei. Und die Kolleginnen mit Kopftuch standen und stehen
       massiv unter Beobachtung.
       
       Dass kein Fall öffentlich wurde, heißt nicht, dass es keinen Unfrieden
       gibt. 
       
       Ich denke, es ist eher ein Zeichen dafür, dass die Schulen offenbar Wege
       finden, mit auftretenden Problemen der Sache angemessen umzugehen. Dass das
       nicht zu einem öffentlichen Aufreger wird, ist in dem Sinne auch eine
       Antwort.
       
       Es gibt auch Stimmen, die jetzt, nachdem die Berliner Lehrerin vor dem
       Bundesarbeitsgericht gewonnen hat, sagen: Gut, dass das Kopftuch endlich in
       die Berliner Schulen kommt, dass kann den Zugang zu „den“ muslimischen
       Eltern nur verbessern. Aber ist das so einfach? 
       
       „Die“ muslimischen Eltern gibt es genauso wenig wie „den“ islamischen
       Kulturkreis. Was ganz bestimmt eine Rolle spielt: Für Mädchen, die sich dem
       Kopftuch zugewandt sehen, die das gerne tragen wollen, für die ist eine
       Lehrerin mit Kopftuch ganz sicher auch ein Empowerment.
       
       Inwiefern? 
       
       Wenn Sie unterrepräsentiert sind in einer Gesellschaft,
       Diskriminierungserfahrungen machen und Sie sehen jemanden, der mit ihnen
       etwas teilt, womit sie sich identifizieren, und der zugleich eine
       herausgehobene Position in der Gesellschaft hat, dann kann das ein sehr
       stärkendes Element sein. Im Sinne eines Andockens, im Sinne von
       Anknüpfungspunkten, die ich solchen Schülerinnen biete, kann das sehr
       hilfreich sein.
       
       Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) sieht eher die Gefahr,
       dass das Kopftuch der Lehrerin diejenigen Mädchen weiter unter Druck setzt,
       die kein Kopftuch tragen wollen, aber von den Eltern gezwungen werden. 
       
       Lehrerinnen mit Kopftuch betonen immer wieder, dass Zwang in ihrem
       Verständnis des Islam nicht vorgesehen ist und sie Eltern dies vermitteln
       würden. Aber ja, es muss möglich sein, auch über diese Sorgen offen zu
       sprechen, wir müssen aufhören, immer nur eine Position absolut zu setzen.
       Und das muss ein Schulklima aushalten können.
       
       Die Berliner Bildungsverwaltung hat bereits angekündigt, vor den
       Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Überrascht Sie die politische
       Hartnäckigkeit? 
       
       Ja, die überrascht mich. Mir erscheint das wie ein Stellvertreterkampf, der
       nicht angemessen ist im Bildungsbereich, wo es eigentlich darum gehen
       sollte, dass man miteinander kommuniziert. Wo es darum gehen sollte, dass
       man eine Haltung entwickelt, die auf Wissen und nicht auf Annahmen
       übereinander basiert. Stattdessen sehe ich in der bildungspolitischen
       Reaktion auf das Urteil eher eine Verhärtung des Diskurses.
       
       Die Politik könnte deshalb so viel Hartnäckigkeit an den Tag legen, weil es
       um die Neutralität einer staatlichen Institution geht – über das Kopftuch
       hinausgedacht. 
       
       Das ist dann aber ein falsches Verständnis von Neutralität. Schule ist kein
       neutraler Ort, sie ist Teil der Gesellschaft. Natürlich gilt die [4][Maxime
       des Beutelsbacher Konsens]: Ich darf meine Schüler mit meiner
       politischen/religiösen Meinung nicht überwältigen. Aber ich kann natürlich
       als Lehrerin deutlich machen, wo ich stehe, solange ich verschiedene
       Positionen anbiete und gleichberechtigt diskutiere und meine nicht absolut
       setze. Im Übrigen ist der säkulare Staat Deutschland ja kein laizistischer
       Staat. Es geht viel eher darum, dass sich verschiedene Religionen und
       Gruppen in den gesellschaftlichen Willensbildungsprozess auf demokratische
       Weise einbringen – zum Beispiel auch über den Religionsunterricht an
       Schulen.
       
       Wäre es dann nicht sinnvoll, den qua Grundgesetz garantierten
       bekenntnisorientierten Religionsunterricht abzuschaffen? 
       
       Das kann man so sehen, ja. Man könnte einen religionskundlichen oder einen
       weltanschaulich-pluralen Unterricht anbieten. Auch dafür gibt es bereits
       Modelle, etwa wenn man nach Großbritannien oder sogar nach Bremen schaut.
       Das sind ja nicht Dinge, die jetzt zum ersten Mal aufs Tapet kommen. Ich
       glaube, die Debatte um das Berliner Neutralitätsgesetz wird von einigen
       Personen gerade genutzt, um die eigene Position als allgemeingültig
       durchzusetzen – zulasten des Friedens in der Gesellschaft.
       
       17 Oct 2020
       
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