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       # taz.de -- Die Wahrheit: Finstere Tage ohne Freiheit
       
       > Existiert die kalte Jahreszeit überhaupt? Oder ist der Winter nur
       > menschengemacht? Porträt eines misstrauischen Winterskeptikers.
       
       Vier oder fünf Jahre war er alt, als die ersten Zweifel in ihm aufgestiegen
       sind. Der heilige Nikolaus hatte schlimme Ding über ihn in seinem Goldenen
       Buch gesammelt. Und Krampus, der bucklige Begleiter des guten Mannes, hatte
       den kleinen Jungen in seinen Sack gesteckt, ihn etliche Hundert Meter von
       der elterlichen Wohnung fortgetragen und ihn an einer wenig belebten
       Kreuzung ausgesetzt. Eine Winterjacke hatte der Bub nicht an und musste auf
       Socken zurück nach Hause gehen. Das sei die Strafe dafür, dass er manchmal
       vergaß, die Klospülung zu betätigen, wenn er ein großes Geschäft verrichtet
       habe, so hatte es der Nikolaus gesagt.
       
       Jedes Jahr, wenn der Tag naht, an dem die Bevölkerung von den Machthabern
       im Land dazu aufgefordert wird, die Uhren von der Sommerzeit auf die
       Winterzeit umzustellen, muss Hans Viehbeiner daran denken, was ihm in
       seiner Kindheit zugestoßen ist. Warum, so fragt er sich dann, musste er
       damals so frieren. Weil er gesündigt hatte? Die Erklärung war Viehbeiner
       schon als Kind zu einfach, auch wenn sie im ersten Moment durchaus
       plausibel erschien. Der wahre Grund dafür, dass ihm so kalt war an jenem
       Abend, ist so einfach, dass er beinahe schon wieder schwer zu erfassen ist:
       Er hatte gefroren, weil es Winter war.
       
       Heute bezeichnet Viehbeiner das, was ihm an jenem Abend widerfahren ist,
       als Schlüsselerlebnis. Es sei sein Saulus-Paulus-Moment gewesen, wie er
       selbst so gern sagt. Krampus hatte ihm die Augen geöffnet. Dass da etwas
       nicht stimme, ist ein Gedanke, der ihn seitdem nicht mehr loslässt. Gut
       fünfzig Jahre ist das jetzt her, und seit gut einem halben Jahrhundert
       beschäftigt sich Viehbeiner mehr oder weniger intensiv mit der Frage, was
       oder wer eigentlich dafür verantwortlich ist, dass jedes Jahr, wenn die
       Bäume die Blätter verloren haben, etwas beginnt, für das sich das Wort
       Winter eingebürgert hat.
       
       ## Tiere müssen für die skandalöse Jahreszeit ihre Behaarung lassen
       
       Für Viehbeiner ist der Winter so etwas wie ein immerwährender Skandal, der
       sich durch die Geschichte der Menschheit zieht. Und manchmal macht es ihn
       traurig zu sehen, wie sich die Menschen abgefunden haben mit dem, was ihnen
       da als Naturphänomen verkauft wird. Die Leute kaufen sich lieber sündteure
       Winterklamotten, Unterwäsche, für die wolltragende Tiere ihre Behaarung
       lassen müssen, und drehen die Heizung monatelang nicht mehr zu, anstatt auf
       die Barrikaden zu gehen, um gegen das unterdrückerische Jahreszeitensystem
       zu protestieren. Was das Volk mache, diesen, seinen Lieblingswitz erzählt
       der 54-Jährige immer wieder gern, obwohl sich noch nie jemand gefunden hat,
       der darüber hätte lachen wollen: Es volkt.
       
       Er ist stolz darauf, dass er seinen kritischen Geist nicht verloren habe,
       so wie all die Winteropfer, wie er sie nennt, welche die finsteren Tage der
       Freiheitsberaubung kritiklos hinnehmen, diese sogar romantisieren, indem
       sie es sich besonders heimelig machen, die Abende bei Glühwein und
       Gesellschaftsspielen, beim Plätzchenbacken oder zum Zwecke des
       Bratapfelverzehrs in der eigenen Wohnung verbringen.
       
       Viehbeiner hat das schon als den alljährlichen Lockdown bezeichnet, als
       dieses Wort noch nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen war.
       Die Leute ließen sich einsperren und merkten es noch nicht einmal, sagt der
       Mann, der milde lächelt, wenn man ihn als Winterskeptiker bezeichnet.
       Skeptisch zu sein, sei sein Lebenselixier, hat er einmal gesagt, als man
       ihn wieder einmal als Spinner bezeichnet hat.
       
       Schon oft hat Viehbeiner versucht, die Menschen aufzuwecken aus ihrem, nun
       ja, Winterschlaf. Er hat recherchiert, die Temperaturaufzeichnungen der
       letzten Jahrhunderte ausgewertet und hat Material für Flugblätter und
       Infobroschüren aufbereitet. Vor allem eine Erkenntnis hat ihn aufhorchen
       lassen. Verfolge man die Wetteraufzeichnungen in Deutschland zurück, so
       werde man bald feststellen, dass diese meist in den achtziger Jahren des
       19. Jahrhunderts abbrechen. Für Viehbeiner ist das alles andere als ein
       Zufall. Temperaturunterschiede wurden davor einfach nicht gemessen, weil
       sie keine Rolle gespielt hätten, erläutert er auf den Vorträgen, für die
       man ihn bei Bedarf buchen kann. Das Konzept der Jahreszeiten habe es davor
       einfach nicht gegeben.
       
       ## Sonnenuhren sterben mit Einführung der dunklen Jahreszeit aus
       
       Viehbeiner hat viele Indizien zusammengetragen, mit denen er glaubt,
       belegen zu können, dass der Winter menschengemacht ist. So frage er sich,
       warum es sich irgendwann nicht mehr gelohnt habe, Sonnenuhren herzustellen,
       warum ein ganzer Handwerkszweig regelrecht ausgestorben sei. Auch hier sei
       die Erklärung überaus einfach. Mit Einführung der dunklen Jahreszeit, habe
       sich die Herstellung einfach nicht mehr gelohnt. „Mehr Licht!“ ist dann
       auch die Losung, hinter der Viehbeiner die Anhänger seiner Bewegung am
       liebsten versammeln würde.
       
       Viehbeiner weiß, dass das Wort Bewegung vielleicht nicht ganz zutreffend
       ist, für das, was er aufgebaut hat. Es fehlen schlicht die Anhänger. Im
       vergangenen Jahr war er selbst der einzige Teilnehmer, bei der nun schon
       traditionellen Lichtdemonstration durch die Bundeshauptstadt Berlin, die er
       jedes Jahr für den Tag vor der Nacht der Zeitumstellung anmeldet. In diesem
       Jahr, so hofft er, könnte sich das ändern. Die Pandemie hat viele Menschen
       skeptischer gemacht. Auch er selbst hat sich natürlich schon klar gegen das
       Coronavirus positioniert.
       
       Und so hofft er, endlich auch jüngere Menschen für sein Anliegen begeistern
       zu können. Was ihm vor allem fehle, sei, auch aufgrund seines Alters, so
       Viehbeiner, der Zugang zu sozialen Medien. So etwas wie Tiktok kenne er
       persönlich nur von seiner Taschenuhr. Da setze er auf Nachwuchsskeptiker.
       Doch die seien schwer zu finden. Die meisten jungen Menschen, so hat er es
       beobachtet, engagieren sich in diesen Tagen ja eher gegen wärmere
       Temperaturen. Bei Fridays for Future werde er so schnell keine
       Winterskeptiker finden, ist er sich jedenfalls sicher.
       
       Dass in diesen Tagen viel über den Messengerdienst Telegram gesprochen
       wird, über den die irrwitzigsten Gestalten Anhänger um sich scharen, hat
       auch Viehbeiner mitbekommen. Doch die Anwendung ist ihm ebenso suspekt wie
       beinahe alles, was aus Russland kommt, jenem Land, in dem die Menschen
       traditionell mit den härtesten Wintern unterdrückt werden. Nicht einmal die
       Oktoberrevolution habe diese Praxis geändert, obwohl bestimmt viele
       Menschen gehofft hätten, es würde endlich wärmer werden in ihrem Land.
       
       Hans Viehbeiner jedenfalls will die Hoffnung nicht aufgeben. Und er hat
       einen Traum. Er träumt von einer Revolution, an deren Ende die winterlose
       Gesellschaft steht. Gibt er uns zum Abschied mit auf den kalten Heimweg.
       
       23 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Rüttenauer
       
       ## TAGS
       
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