URI: 
       # taz.de -- Semesterbeginn in der Pandemie: Und es hat Zoom gemacht
       
       > Anfang November starten die Uni-Vorlesungen – überwiegend online. Wer das
       > aus Datenschutzgründen ablehnt, verpasst das Semester.
       
   IMG Bild: Studierende haben Probleme mit unerwünschten Nebenwirkungen von Online-Veranstaltungen
       
       Schnell um Viertel nach in die Bank gedrückt, den Sitznachbar:innen
       Blicke zugeworfen, je nachdem was die Lehrperson vorne sagt, auch mal die
       Augen verdreht. So war das damals, das Studieren an der Uni. Gemeinsam raus
       aus dem Hörsaal, einen Kaffee getrunken, vielleicht die Thesen aus der
       Vorlesung diskutiert, zumindest nochmal gefragt: „Habt ihr das verstanden?“
       
       Seit dem Beginn der Coronapandemie sitzen Studierende an deutschen Unis
       jetzt hauptsächlich vor dem Bildschirm, ein Dutzend Vierecke vor sich,
       manchmal winken am Ende des Seminars alle in die Kamera. Nach sechs Stunden
       Vorlesung tun die Augen weh. Studieren im Onlinemodus heißt für viele: nur
       wenige persönliche Kontakte und Mühe mit der Konzentration.
       
       Das neue Semester startet am 2. November, und es wird sich erst mal nicht
       viel ändern. „Länder und Hochschulen stellen sich gegenwärtig auf eine
       Mischung aus Digital- und Präsenzlehre ein – mit einem Schwerpunkt auf
       digitalen Angeboten, die, wo immer vertretbar, mit Präsenzangeboten
       kombiniert werden sollen“, so die Hochschulrektorenkonferenz.
       
       Die Unis haben mittlerweile schon Übung. Als im vergangenen Semester
       Vorlesungen und Seminare plötzlich nicht mehr vor Ort stattfinden konnten,
       fanden sie andere Wege, um Studieninhalte zu vermitteln. Viele setzen auf
       Videokonferenzen, mit denen Seminare und Vorlesungen wie gewohnt abgehalten
       werden, nur eben online. Der US-Anbieter Zoom ist der wichtigste
       Videokonferenzdienst dieser Krise. Auch deutsche Hochschulen greifen am
       häufigsten auf ihn zurück, wie eine Umfrage der Humboldt-Universität Berlin
       zeigt.
       
       Für Leo Maye ist das ein Problem. Denn über diese Plattform möchte der
       23-jährige Masterstudent der Politikwissenschaft nicht teilnehmen. Für ihn
       hat die Sicherheit seiner persönlichen Informationen im Netz oberste
       Priorität. In seiner privaten Kommunikation ist das eine Entscheidung, die
       er selbst treffen kann, indem er bestimmte Dienste nicht nutzt. Das war im
       ersten Corona-Semester anders, er fühlte sich unter Zwang. Um sein Studium
       fortzusetzen, hätte er an Konferenzen über eine Software teilnehmen müssen,
       die er sonst nie benutzen würde. Im vergangenen Semester hat er deshalb nur
       eine einzige Veranstaltung besucht, die über eine andere, sicherere
       Software lief. „Eine hoch unbefriedigende Situation“, sagt er am Telefon.
       
       Leo Mayes größtes Problem mit Zoom: Er muss darauf vertrauen, dass nur
       notwendige Daten erhoben werden und die nur wie vorgesehen verarbeitet
       werden. Daran zweifelt er. In der Vergangenheit etwa wurden Daten an
       Facebook weitergegeben. Auch wenn das von Zoom mittlerweile behoben wurde,
       lasse dies Rückschlüsse auf den Stellenwert von [1][Datenschutz im
       Unternehmen] zu.
       
       Zu Beginn der Pandemie konnten Unbefugte sich zudem durch „Zoom-bombing“ in
       Konferenzen einwählen und dort etwa pornografisches Material teilen. Auch
       das „Aufmerksamkeits-Tracking“ wurde kritisiert, mit dem man überwachen
       konnte, ob Teilnehmer:innen vor dem Laptop zuschauten oder das Zoom-Fenster
       im Hintergrund laufen ließen.
       
       Weil die Ausnahmesituation anhält, löst sich das Problem nicht einfach in
       Luft auf. Durch die Coronakrise erfährt die Digitalisierung einen Schub.
       Viele Hochschulen sehen die aktuelle Situation als Chance, „sich im Bereich
       digitalen Lernens und Lehrens langfristig besser aufzustellen“. Das ergab
       eine Befragung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, an der
       168 deutsche Hochschulen teilgenommen haben. Hier sind sie, die großen
       Fragen: Wie werden wir in Zukunft lernen? Mit welchen Methoden, auf welchen
       Plattformen, zu welchen Bedingungen?
       
       Zu Beginn der Pandemie wurden die Universitäten ziemlich überfahren: Sie
       mussten auf die Schnelle ihre Lehre digitalisieren. Ohne eine Blaupause, an
       der sie sich hätten orientieren können. Es gab keine verbindliche
       Einschätzung dazu, welche Dienste und Software empfehlenswert wären.
       Natürlich müssen sich Hochschulen an geltendes Datenschutzrecht halten.
       Allerdings sind sich Expert:innen uneinig, ob etwa die Nutzung der
       Zoom-Software an Hochschulen vertretbar ist.
       
       Zu Beginn der Pandemie veröffentlichte die Berliner Datenschutzbeauftragte
       ein Statement, wonach Plattformen wie Zoom oder Microsoft Teams die
       rechtlichen Anforderungen nicht erfüllen. Der Jurist und
       Informationsbeauftragte der Universität Kassel, Alexander Roßnagel, sah das
       ähnlich und schrieb Ende März, dass Zoom „in wichtigen Bereichen die
       Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung nicht erfüllt“. Außerdem
       warnte er vor dem Entstehen von „Zwangssituationen zur Nutzung von Zoom“
       für Studierende. Genau so eine, in der sich Leo Maye befand: Um
       weiterzustudieren, hätte er an den Videokonferenzen teilnehmen müssen.
       
       Das Unternehmen Zoom hat seit Ende März seine Datenschutzrichtlinien
       überarbeitet und einige Verbesserungen vorgenommen. Deshalb kommen viele
       Expert:innen heute zu einer anderen Einschätzung. „Im Lichte der Kritik
       wurden mittlerweile einige Sicherheitslücken geschlossen“, bestätigen die
       zuständigen Fachreferate des Bundesdatenschutzbeauftragten auf Anfrage,
       „dennoch ist sicherlich viel Vertrauen verspielt worden“.
       
       Auch die Universität Kassel greift nun doch auf diesen Dienst für die
       digitale Lehre zurück. Roßnagel beurteilt die Nutzung von Zoom jetzt als
       verantwortbar, unter anderem weil Hochschulen bei der Einrichtung von Zoom
       bestimmte Funktionen deaktivieren können. Trotzdem erfülle „Zoom nicht alle
       Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung“, wie es in seiner
       aktualisierten Einschätzung heißt.
       
       Im Juli wurde alles noch komplizierter: Denn der Europäische Gerichtshof
       erklärte das sogenannte Privacy Shield, das bis dahin die Rechtsgrundlage
       für den Austausch personenbezogener Daten mit den USA bildete, für
       ungültig. Die Server von Zoom jedoch stehen in den USA. Als Rechtsgrundlage
       übrig bleiben sogenannte Standardvertragsklauseln. „Auf dem Papier sieht
       das gut aus, aber die Frage bleibt, ob eine US-Firma selbst bei ehrlichsten
       Absichten faktisch in der Lage ist, ein mit dem europäischen Standard
       vergleichbares Datenschutzniveau sicherzustellen“, sagt Jochim Selzer von
       der Hackervereinigung Chaos Computer Club (CCC).
       
       Denn auch unabhängig davon gibt es einen Unterschied zwischen
       Datenschutzkonformität und Informationssicherheit. Darauf weist
       beispielsweise der Anwalt für IT-Recht Stephan Hansen-Oest auf seinem Blog
       Datenschutz-Guru hin. Er hat Zoom, zumindest vor dem Gerichtsurteil, als
       rechtlich zulässig beurteilt. Trotzdem schrieb er auch damals schon: „Wer
       Zoom nicht einsetzen mag, weil er seine Informationssicherheit nicht als
       gewährleistet ansieht, der soll es lassen. Ich habe dafür Verständnis. Und
       es ist eine legitime Entscheidung.“
       
       Hier liegt der Kern des Problems: Was passiert mit Studierenden, die an
       ihren Bedenken festhalten? Die Teilnahmepflicht gilt im digitalen Format
       genauso wie vor Corona. Um die Veranstaltungen abzuschließen, hätte Leo
       Maye an den Videokonferenzen teilnehmen müssen. Manche Universitäten
       versuchten auf unterschiedlichen Wegen auf ihre Studierenden einzugehen.
       Die Universität Bonn etwa hatte die Antragsgründe für ein Urlaubssemester
       ausgeweitet.
       
       „Aber die Konsequenz für Studierende ist enttäuschend“, findet Leonie
       Ackermann von der Studierendenvertretung freier zusammenschluss von
       student*innenschaften. Und das, obwohl es natürlich eine unvorhersehbare
       Krisensituation sei, auf die es schnell zu reagieren galt: „Wenn jemand
       aus Datenschutzbedenken nicht über eine solche Plattform teilnehmen
       möchte, müssen andere Lösungen gefunden werden, wie das Seminar trotzdem
       absolviert werden kann“, sagt Ackermann.
       
       Denkbar wären beispielsweise die Ermöglichung des Selbststudiums, der
       Austausch via Mail oder Bildungsplattformen, die Abgabe von Essays zur
       Leistungsüberprüfung.
       
       Solche Möglichkeiten gab es für Maye nicht. Er hatte seine Dozent:innen
       vor der Einführung der Onlinelehre kontaktiert, genauso seine
       Studiengangskoordinatorin und den Datenschutzbeauftragten seiner
       Universität. In den Antworten wird zwar Verständnis für seine Bedenken
       gezeigt, aber an der Nutzung von Zoom für die Teilnahme am Seminar
       festgehalten. „Ich bin am Ende meiner Möglichkeiten“, sagt Maye.
       
       Dass viele Studierende an deutschen Hochschulen sich ähnlich rigoros
       verhalten, ist nicht zu erwarten. Viel wahrscheinlicher ist, dass es so
       läuft wie im Fall von Lukas Weber, der an einer anderen Universität in
       Deutschland studiert. Auch er hat eine Dozentin kontaktiert, die Zoom für
       ihr Seminar nutzt. Diese antwortete, dass sie „keine datenschutzrechtliche
       Überprüfung einer Software, deren Lizenz mir die Fakultät zur Verfügung
       stellt, leisten“ kann. „Ich habe dann klein beigegeben“, sagt Weber. Er
       habe das Seminar für seinen Studienverlauf gebraucht.
       
       Das kleine Zeitfenster, in dem die Hochschulen krisenbedingt ihre Lehre
       anpassen mussten, hat wohl zur Nutzung der kommerziellen Dienste
       beigetragen. Theoretisch würde es schon andere Möglichkeiten geben, sagt
       Jochim Selzer vom CCC. Anwendungen, die auf eigenen Servern betrieben
       werden können, sind oft datenschutzfreundlicher, denn dann werden
       personenbezogene Daten grundsätzlich nicht an Dritte übertragen.
       
       Ein Beispiel ist die freie Software BigBlueButton, die etwa an der
       Universität Osnabrück für Videokonferenzen im Coronasemester zum Einsatz
       kommt. Hier wird schon lange mit [2][Open-Source-Lösungen] gearbeitet – ein
       Vorteil in dieser Krise. Nur sei das für die Hochschulen natürlich
       aufwendiger, sagt Selzer. „Man muss extra Personal dafür abstellen und auf
       eventuelle Probleme des Servers schnell reagieren können“. Das ist ein
       Service, den etwa Zoom oder Microsoft Teams liefern, wenn man sich für ihre
       Lizenzen entscheidet.
       
       Außerdem sind Open-Source-Systeme weniger leistungsstark, etwa wenn die
       Teilnehmer:innenzahl steigt. „Aber wenn die Unis das nicht hinbekommen, wer
       dann?“, meint Selzer.
       
       Universitäten haben eigene Rechenzentren und damit die Möglichkeit, eigene
       Server aufzusetzen. Er fürchtet, dass die Software, an die sich die
       Dozierenden im Zuge dieser Krise gewöhnen, zum Standard nach der Krise
       werden könnte – wenn beispielsweise wieder stattfindende Präsenzlehre durch
       Videoformate ergänzt wird. Dass dann ein neues, datenschutzfreundliches
       Tool eingeführt wird, hält er für unwahrscheinlich.
       
       Leo Maye jedenfalls stellt sich darauf ein, im kommenden Semester an den
       Videokonferenzen über Zoom teilnehmen zu müssen – er sieht keine andere
       Möglichkeit, wenn er weiterstudieren will.
       
       24 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Onlineunterricht-in-der-Coronakrise/!5691138
   DIR [2] /Zoom-und-Microsoft-im-Corona-Aufschwung/!5678135
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Becke
       
       ## TAGS
       
   DIR Universität
   DIR Studium
   DIR Kunst Berlin
   DIR Berliner Hochschulen
   DIR Leibniz Universität Hannover
   DIR Deutsche Universitäten
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Leibniz Universität Hannover
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR George Soros
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Performance im Fabriktheater Moabit: Verlorene Wörter, entfernte Gefühle
       
       Das Stück „I don’t know where my mouth is“ entsteht in Deutschland und
       Israel. Im Fabriktheater Moabit hinterfragt es die digitale Kommunikation.
       
   DIR Lockerungen an Universitäten: Studierende haben den Online-Blues
       
       Im April beginnt das dritte Digital-Semester. Die Initiative
       #NichtNurOnline fordert Präsenzlehre – und kritisiert politische
       Konzeptlosigkeit.
       
   DIR Studieren in Corona-Zeiten: Mensa ohne Menschen
       
       Das Studium findet derzeit kaum an der Uni statt, die Studierenden sitzen
       die meiste Zeit zu Hause. Wie kommen sie damit klar?
       
   DIR Verhandlungen mit dem VBB: Studis bald ohne Semesterticket?
       
       VBB und Studis streiten sich über eine geplante Preiserhöhung. Wer gibt
       nach, und warum sollte es der VBB sein? Die Zeit drängt.
       
   DIR Schulbetrieb in Hamburg: Eltern in Sorge
       
       Hamburgs Elternkammer fordert eine andere Raumnutzung, um den
       Präsenzunterricht zu erhalten. Der Schulsenator misst Grenzwerten keine
       Bedeutung zu.
       
   DIR Geldnöte niedersächsischer Unis: Der Lehre abgespart
       
       Die Unis in Hannover und Göttingen beklagen massive Finanzierungsprobleme
       bei Sanierungen. Das nötige Geld nehmen sie aus Forschung und Lehre.
       
   DIR Wintersemester der Unis: Mit Abstand ins Hybridsemester
       
       Nach dem Digitalsemester kündigen die Unis an, zum Normalbetrieb
       zurückzukehren. Präsenzveranstaltungen bleiben aber wohl die Ausnahme.
       
   DIR Ausländische Hochschulen in Ungarn: EuGH entscheidet gegen Orbán
       
       Das ungarische Hochschulgesetz verstößt gegen EU-Recht. Das entschied der
       Europäische Gerichtshof. Eine Universität hatte zuvor das Land verlassen
       müssen.