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       # taz.de -- Konzeptausstellung zu Emil Nolde: Weiß wie Merkels Wände
       
       > Die Draiflessen Collection in Mettingen zeigt eine kritische Ausstellung
       > zu dem Expressionisten. Konzipiert hat sie der Künstler Mischa Kuball.
       
   IMG Bild: Installation von Mischa Kuball mit Emil Nolde, „Der Herrscher“, 1914, und „Familie“, 1931
       
       „Die Wände in Angela Merkels Arbeitszimmer bleiben weiß“, erfuhren deutsche
       Mediennutzer im April 2019. Die Kanzlerin hatte da gerade die beiden
       Gemälde Emil Noldes abgehängt, weil sich das Bild des Künstlers
       unbestreitbar gewandelt hatte: vom Verfemten und Verfolgten des
       Nazi-Regimes [1][zum Nazi-Sympathisanten, Antisemiten, Rassisten], der in
       den 1930er Jahren nichts unversucht ließ, zum Staatskünstler aufzusteigen.
       
       Der Düsseldorfer Konzeptkünstler Mischa Kuball hat jetzt eine kritische
       Nolde-Ausstellung konzipiert und dabei ähnlich wie Merkel agiert. Mischa
       Kuball ist einer dieser Menschen, die den Eindruck erwecken, ihr Tag habe
       weit mehr als 24 Stunden.
       
       In der großen Bibliothek seines weitläufigen Düsseldorfer Ateliers hält er
       einen atemlosen Monolog über seine Beschäftigung mit Emil Noldes Werk,
       Recherchen über die Helfer und Helfershelfer, die dafür sorgten, dass er
       den Mythos des verfolgten Künstlers so lange aufrechterhalten konnte.
       
       Einen Mythos, der durch [2][Siegfried Lenz]’ Roman „Deutschstunde“ ins
       kollektive Gedächtnis vieler Schülergenerationen einging. Kuball legt dabei
       immer wieder kopierte Texte, Kataloge und Kunstbände vor, die die
       verästelten Spuren belegen, denen er nachgegangen ist.
       
       ## Noldes mangelnde Distanz gegenüber anderen Kulturen
       
       Er hat sich zum Beispiel mit dem Kunstkritiker Werner Haftmann beschäftigt,
       der es möglich machte, dass Emil Nolde auf den ersten drei
       documenta-Ausstellungen gezeigt wurde. Er hat einen Brief des
       deutsch-jüdischen [3][Kulturwissenschaftlers Aby Warburg] ausfindig
       gemacht, in dem er Nolde, der über eine große Sammlung ethnografischer
       Objekte wie Stammesmasken verfügte, mangelnde Distanz gegenüber anderen
       Kulturen vorwarf.
       
       Er hat in der Nolde-Stiftung in Seebüll Einsicht erhalten in die Sammlung
       des Malers, hat viele weitere historische Quellen studiert, auch Freud
       herangezogen. Irgendwann verfestigte sich für Kuball dieses Bild: „Der
       Künstler Emil Nolde mit seinen Männer-Freundschaften, mit seiner
       einerseits großen Sensibilität, aber anderseits egozentrischer
       Ich-Aufblasung, der hat verstanden, dass für ihn ein großer Platz sein
       könnte im nationalsozialistischen System.“
       
       Was treibt den 1959, also nach dem Krieg Geborenen, sich so tief in die
       Geschichte eines expressionistischen Malers zu wühlen, der für seine eigene
       Künstlerwerdung kaum eine Rolle spielte?
       
       „Mein Großvater war in der USPD und im Widerstand. Ich selbst sehe mich als
       Diskursarbeiter für eine inklusive Gesellschaft“, sagt er unter anderem.
       Als Schüler habe er die Zerrissenheit der Nachkriegsgesellschaft erlebt;
       Lehrer, die ihre Schüler gerne noch strammstehen ließen wie früher.
       
       ## Nationalsozialismus, Kunst und Judentum in Deutschland
       
       Seit den 1980ern beschäftigt er sich mit dem Themenkomplex
       Nationalsozialismus, Kunst und Judentum in Deutschland, mit dem deutschen
       Pavillon auf der Weltausstellung 1937 und bespielte die erhaltene Synagoge
       in Stommeln.
       
       Die Anfrage der Draiflessen Collection, eine kritische Nolde-Ausstellung zu
       konzipieren, passte also. Kuball arbeitet sich dort an Bruchlinien einer
       widersprüchlichen Künstlerbiografie entlang: Nolde war früh Mitglied der
       NSDAP, erarbeitete einen Plan zur territorialen Lösung der „Judenfrage“
       durch Aussiedelung, denunzierte Malerkollegen, hoffte bis zum Ende des
       Krieges auf einen „Endsieg“.
       
       Allerdings rückte er nicht von seinem expressionistischen Malstil ab. Seine
       Landschaften waren aufgewühlt und farblich verfremdet, auch abgerissene
       Baumstämme konnten ihm als Hauptmotiv dienen, seine menschlichen Figuren
       stellte er oft maskenhaft oder grotesk verzerrt dar. „Er hatte ein
       komplexes Menschenbild“, gesteht Kuball zu.
       
       Die Ausstellung visualisiert seine Recherchen, zeigt aber auch Emil Noldes
       Werk selbst – allerdings verfremdet. Große Teile der auf den documenten
       1955, 1959 und 1964 ausgestellten Werke des expressionistischen Malers sind
       dort zu sehen. Besonders schwer macht Kuball es den Besucher*innen in
       Mettingen, die sogenannten „Ungemalten Bilder“ zu betrachten.
       
       ## Nolde-Stiftung: Zwischen Aufarbeitung und Verherrlichung
       
       Die kleinformatigen Aquarelle, die Nolde während der Nazizeit aufgrund
       eines angeblichen Malverbots anstatt großformatiger Ölbilder in seinem
       Hausatelier in Seebüll an der dänischen Grenze fertigte, sehen sie nur weit
       entfernt in Reihe an der Decke hängen, dazu hinter einem dichromatischen
       Filter, der ihnen die Farbe entzieht, mit der sie sonst gleich bestechen
       und Aufmerksamkeit ziehen würden. Sie sind also schwarz – und weiß wie
       mittlerweile Merkels Arbeitszimmerwand.
       
       Neben der Nolde-Inszenierung ist die Schau manchmal verkopfte
       Konzeptausstellung, die in Teilen nur versteht, wer sich mit Kuballs
       Herangehensweise beschäftigt: Die Nolde-Stiftung in Seebüll, die nach einem
       Leitungswechsel heute sehr an der Aufarbeitung der Gesinnung ihres Gründers
       interessiert ist, ließ den Düsseldorfer Künstler etwa tief in den sonst der
       Öffentlichkeit unzugänglichen Archiven wühlen.
       
       Hier durfte er die ethnografische Sammlung mit rund 2.500 Objekten
       begutachten, die Nolde auf vielen Reisen zusammengetragen hat. Kuball
       überführt sie durch Invertierung der Schwarz-Weiß-Werte und Verwendung des
       Bildgebungsverfahrens der Computertomografie in eine andere Visualität –
       schafft also merkwürdige Bilder, die an Radiologien erinnern. So schafft er
       die Distanz, die der Maler laut Aby Warburg zu den Werken alter Kulturen
       selbst nicht hatte.
       
       Spannend ist, nach dem Besuch der Draiflessen Collection in Mettingen nahe
       Osnabrück noch weiter Richtung Norden zu fahren, zur Nolde-Stiftung in
       Seebüll. Die vollzieht gerade sehr offensichtlich einen Spagat:
       [4][zwischen kritischer Aufarbeitung und Verherrlichung] – und sogar
       Verniedlichung.
       
       Auf einer Schautafel für Kinder steht dort zum Beispiel dieser Text über
       die Beziehung des 80-Jährigen Nolde zur 26-jährigen Jolanthe Erdmann: „Emil
       war unendlich traurig, als seine geliebte Ada 1946 starb. Doch dann lernte
       er Jolanthe kennen. Sie war viel jünger als er und brachte Licht, Lachen
       und Liebe in sein Leben zurück.“
       
       19 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Max Florian Kühlem​
       
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