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       # taz.de -- Trauer um ermordeten Lehrer bei Paris: Der Lehrer und die Hetze
       
       > Samuel Paty scheute im Unterricht über Meinungsfreiheit heikle Themen wie
       > Mohammed-Karikaturen nicht. Islamisten machten Stimmung gegen ihn.
       
   IMG Bild: Conflans-Sainte-Honorine, Samstag: Gedenken vor der Schule dem ermordeten Lehrers
       
       Paris taz | Zehntausende von Menschen sind am Sonntagnachmittag in
       zahlreichen Städten Frankreichs zusammengeströmt, aus Solidarität mit dem
       Lehrer [1][Samuel Paty], der am Freitag von einem jungen Tschetschenen
       ermordet worden war. Dazu aufgerufen hatten Gewerkschaften und auch die
       Redaktion von Charlie Hebdo.
       
       Am Freitag gegen 17 Uhr hatte die Kriminalpolizei auf der Straße im Pariser
       Vorort Conflans-Sainte-Honorine einen Mann mit einem blutigen Küchenmesser
       entdeckt. Nach einer kurzen Verfolgungsjagd wurde er gestellt. Auf die
       Aufforderung der Polizei hin, seine Stichwaffe auf den Boden zu legen, habe
       der Mann aggressiv reagiert und die Beamten auch mit einer Schusswaffe
       bedroht, so die Polizei, die ihn daraufhin erschoss. Nicht weit entfernt,
       vor der Mittelschule von Conflans-Sainte-Honorine, machten die Polizisten
       dann einen makabren Fund: Die Leiche des erstochenen und enthaupteten
       Geschichtslehrers Paty.
       
       Der Schock darüber sitzt tief, und die Aufmärsche sollen auch zum Ausdruck
       bringen, dass man sich nicht einschüchtern lassen will. Neben Schildern,
       auf denen „JeSuisSamuel“ in Anlehnung an „Ich bin Charlie“ steht, trugen
       viele Demonstranten Kartons mit der Aufschrift „Je suis Enseignant“ oder
       „Je suis Professeur“ (Ich bin Lehrer). Ist allein die Tatsache, in einer
       Schule zu unterrichten, heute ein Grund, buchstäblich den Kopf zu
       riskieren, weil der offizielle Lehrplan irgendwelche Fanatiker empört?
       
       Solche Gedanken bewegten die Demonstrierenden am Sonntag auf der Place de
       la République. Ihnen ist bewusst, dass es nicht um ein terroristisches
       Verbrechen unter vielen geht. Das Attentat von Conflans-Sainte-Honorine ist
       wie die Attacke auf Charlie Hebdo im Januar 2015 ein Test für die
       Grundrechte und im Speziellen für die Verteidigung der Presse- und
       Meinungsfreiheit, die in Frankreich explizit das Recht auf Blasphemie
       einschließt. Doch zunächst geht es darum, etwas an sich Unbegreifliches zu
       verstehen.
       
       ## Täter war nicht als Extremist bekannt
       
       Dazu wird die Persönlichkeit des Täters unter Lupe genommen. Der 2002 in
       Moskau geborene Tschetschene Abdoullakh Anzorov war mit seiner Familie
       nach Frankreich geflüchtet und genoss politisches Asyl. Weder seine
       Angehörigen noch die Behörden wussten offenbar etwas von seiner
       islamistischen Radikalisierung: Er war nicht als Extremist in der „S-Datei“
       potenzieller Staatsfeinde registriert. Die Polizei kannte ihn wegen
       kleinerer Delikte in Evreux. Ein Nachbar verriet der Sonntagszeitung
       Journal du dimanche nachträglich: „Er sprach mit niemandem, er machte mir
       Angst.“
       
       Der junge Anzorov war weder ein ehemaliger Schüler von Samuel Paty, noch
       kannte er diesen persönlich. Er hatte auf dem Internet von einer Polemik in
       einer Schule in Conflans-Sainte-Honorine gehört. Auf Twitter bekannte er
       sich zu seiner Tat, mit der er den Propheten zu „rächen“ suchte. Er war
       dafür am Freitag aus Evreux angereist. Inzwischen ist auch bekannt, dass er
       mehrere Stunden vor der Mittelschule wartete und Jugendliche fragte, wer
       unter den herauskommenden Erwachsenen Samuel Paty sei.
       
       Begonnen hatte alles mit einer Unterrichtstunde über Meinungsfreiheit. Zu
       diesem Zweck wollte der Lehrer als Beispiel unter anderem [2][zwei
       Mohammed-Karikaturen aus Charlie Hebdo ] zeigen. Da er wusste, dass dies
       einige Muslime unter seinen Schülern stören konnte, sagte er ihnen, sie
       sollten wegschauen oder kurz das Klassenzimmer verlassen. Am Tag darauf kam
       eine Mutter in die Schule und beschwerte sich, weil ihre Tochter „wegen
       ihres Glaubens“ aus der Klasse verwiesen worden sei. Auf Wunsch der
       Schulleitung organisierte Paty eine Aussprache und entschuldigte sich
       sogar.
       
       Doch im Viertel wurde die Geschichte verdreht. In einer anonymen empörten
       Mail an die Schule war von einem „islamophoben Klima“ die Rede. Und am
       selben Tag veröffentlichte Brahim C., der Vater einer Schülerin, die nicht
       in Patys Klasse war, auf Facebook einen feindseligen Appell gegen den
       Lehrer. Später nannte er sogar Patys Namen und Wohnadresse. Er befindet
       sich deswegen heute zusammen mit zehn anderen Personen zur Befragung in
       Polizeigewahrsam.
       
       ## Lehrer hatte sich bedroht gefühlt und Klage eingereicht
       
       Schnell verbreitete sich die islamistische Version der Geschichte über
       Conflans-Sainte-Honorine hinaus. Wie genau sie Anzorov zu seiner Bluttat
       anstiftete, ist noch nicht klar. Verantwortlich für die Eskalation könnte
       nach Polizeiangaben mit seinen denunzierenden Aufrufen der ebenfalls
       festgenommene marokkanische Prediger Abdelhakim S. sein, der wegen seiner
       Nähe zu Islamisten registriert ist. Paty sei ein „Schurke, der die
       Meinungsfreiheit instrumentalisiere“, sagte er der Schulleitung, die ihn
       vergeblich zu einem Treffen mit Paty eingeladen hatte.
       
       Paty, der sich bedroht fühlte, reichte Klage wegen Verleumdung ein.
       Inzwischen war die Sache auch den Sicherheitsbehörden bekannt, die indes
       nicht reagierten. In diesem Zusammenhang fordern jetzt die demonstrierenden
       LehrerInnen, dass ihre Hinweise ernster genommen werden als bisher.
       
       18 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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