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       # taz.de -- Essay des Schriftstellers Wole Soyinka: Déjà-vu in Nigeria
       
       > Der nigerianische Staat ist im Begriff, die junge hoffnungsvolle
       > Protestbewegung des Landes in Blut zu ertränken. Ein Aufschrei aus
       > aktuellem Anlass.
       
   IMG Bild: Wole Soyinka in seinem Haus in Abeokuta, Nigeria, hier im Jahr 2014
       
       Als ich vor knapp über einer Woche aus dem Ausland zurückkehrte, erwartete
       mich ein außergewöhnliches Willkommensgeschenk. Es war eine Bewegung – mal
       zornig, mal mitreißend und ergreifend, manchmal schrill, sicherlich mit
       hohen Erwartungen, aber immer gefühlvoll, visionär, organisiert. Die
       Bewegung verlangte ein Ende der Brutalität staatlicher Sicherheitsorgane,
       vor allem der berüchtigten Polizeieinheit SARS. Natürlich stand SARS für
       parasitäres Regieren insgesamt.
       
       Die Bewegung umfasste Anwälte, Feministen, Technokraten, Studenten,
       Prälaten, Industrielle, Künstler. Sie war jung, ihre Energie, ihre
       schöpferische Kraft strahlte durch die ganze Nation. Sie war vor allem
       ordentlich. Zuweilen spürte man Vibrationen wie ein Woodstock-Echo, oder
       auch wie die Massenaufmärsche der Gelbwesten oder die Wellen von
       Solidarnosc oder zuletzt die geduldigen, stoischen Versammlungen von Mali.
       
       Diese Jugend hat frisches Blut in müde Venen gepumpt. Was für ein Segen, in
       dieser Zeit am Leben zu sein und mitzuerleben, wie die Jugend endlich
       beginnt, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen.
       
       Aber – und waren wir hier nicht schon einmal? – plötzlich, über Nacht,
       veränderte sich alles. Die Staatssicherheitsdienste – wer genau, müssen wir
       erst noch herausfinden – karrten Schläger heran, um die Proteste
       aufzulösen. Die Videos sind da, glitzernde Konvois mit verdeckten
       Nummernschildern, die Schläger und Verbrecher einsammeln und dann
       ausspucken, um die friedlichen Proteste zu brechen. Die Söldner zündeten
       die Autos der Protestierenden an, mit Knüppeln und Macheten gingen sie auf
       die versammelten Jugendlichen los, sie stürmten mindestens ein Gefängnis
       und ließen die Insassen frei. Manche dieser Vandalen, wie wir inzwischen
       wissen, waren selbst Häftlinge, die man angeheuert hat und die man
       vermutlich nicht nur mit Geld bezahlt hat. Die Opferzahlen stiegen erst
       sporadisch und gipfelten schließlich vergangene Nacht in der Tötung einer
       noch unbekannten Anzahl von Protestierenden in einem Stadtteil von Lagos
       namens Lekki.
       
       Dieser teuflische Eingriff hat die Stimmung des Protestes abrupt und
       vernichtend verändert. Wut und Nihilismus fassen Fuß, zum ersten Mal, und
       beherrschen bald die Emotionen. An die Stelle organisierter Militanz tritt
       rachsüchtiger Hass, der in alle Richtungen ausschlägt. Die Hauptstadt Abuja
       ist an einigen Orten in Flammen aufgegangen, unter anderem der berühmte
       Apo-Markt, dessen Name Erinnerungen an ein altes SARS-Massaker an
       Jugendlichen wachruft, die „Apo Six“.
       
       Am 20. Oktober machte ich mich im Auto auf den Weg in meine Heimatstadt
       Abeokuta, um zu Hause zu sein, wenn die Spirale der Gewalt sich sinnlos in
       alle Richtungen dreht. Ich verhandelte meinen Weg durch acht oder neun
       Straßensperren der Protestierenden, bis ich umkehren musste. Es war ein
       einziges Déjà-vu: die Aufstände in der einstigen Westregion von Nigeria,
       der Widerstand gegen die Abacha-Diktatur. Doch durch meinen Reiseversuch
       konnte ich die Stimmung und die Verwandlung der Bewegung einschätzen. Ich
       war besser vorbereitet. Ich verschob meine Fahrt auf den nächsten Tag, also
       den Morgen des 21. Oktober.
       
       Zwischenzeitlich, also in den darauffolgenden acht bis zehn Stunden, ist
       die Anspannung allerdings unvorstellbar geworden! Im Stadtteil Lekki von
       Lagos, wo die meisten Versammlungen stattgefunden hatten, eröffneten
       Soldaten das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, töteten und verletzten
       eine noch unbekannte Zahl. Eine dieser außergerichtlichen Tötungen hat die
       nigerianische Flagge im Blut Unschuldiger getränkt, und das nicht nur
       symbolisch. Das Video davon ist „viral“ gegangen, wie man so sagt. Ich habe
       mit Augenzeugen telefoniert. Einer davon, eine bekannte Person des
       öffentlichen Lebens, hat seine Erlebnisse im Fernsehen mitgeteilt. Die
       Regierung sollte aufhören, mit ihren bockigen Dementis die Nation für dumm
       zu verkaufen.
       
       Um 6 Uhr früh an diesem Morgen also brach ich erneut nach Abeokuta auf.
       Wieder musste ich meinen Weg durch Straßensperren aushandeln, diesmal 12
       bis 15, alle von unbarmherziger Wut beherrscht. Es war ein schonungsloser
       Kontrast zum Protestgefühl der „gemeinsamen Familie“ früherer Tage. Die
       inhärente Schönheit des Gemeinschaftsgefühls und der Solidarität war wie
       weggeblasen. Am hartnäckigsten waren die Protestierenden kurz vor dem Sitz
       der Landesregierung von Lagos. Sie zwangen mich schließlich nur zu einem
       Übergangsritus: Ich musste aus meinem Auto steigen und eine Ansprache
       halten. Das tat ich. Sie wussten ja nicht, was ich im Kopf hatte: „Das ist
       nicht real. Das ist ‚Zurück zu Abacha‘, ein grotesker Replay.“
       
       ## Menschenleben sind ein leichteres Ziel als Covid-19
       
       Die Regierung muss unbedingt begreifen, dass im Dämonenalbum der
       Protestierenden jetzt die Armee den Platz von SARS eingenommen hat. Soweit
       ich bislang feststellen konnte, hat der Gouverneur von Lagos die Armee
       nicht eingeladen, er beschwerte sich nicht über einen Zusammenbruch von
       Recht und Ordnung. Dennoch agierte der Zentralstaat autoritär und hat dem
       Gemeinschaftsgeist eine kaum heilbare Wunde zugefügt. Muss ich hinzufügen,
       dass ich bei der Ankunft in meiner Heimatstadt Abeokuta erneut eine
       Straßensperre passieren musste? Es ging glimpflich ab. Ich hatte es
       erwartet, und sicherlich werden weitere errichtet, während ich dies
       schreibe.
       
       Manche behaupten, die anhaltenden Proteste würden der Wirtschaft schaden
       und so weiter. Das ist albern und fantasielos. Covid-19 zermürbt die
       nigerianische Wirtschaft, oder was davon existiert, seit acht Monaten.
       Covid kann man natürlich nicht einfach mit Gewehrkugeln zu Boden bringen –
       Menschenleben sind ein leichteres Ziel, und es lassen sich sogar Trophäen
       als Siegesbeweis zur Schau stellen, wie die blutgetränkte nigerianische
       Flagge, die eines der Opfer schwenkte, als er ermordet wurde.
       
       Die Gouverneure im ganzen Land müssen eines sofort machen: den Abzug der
       Soldaten fordern. Beruft unverzüglich Bürgerversammlungen ein. Ganztägige
       Ausgangssperren sind keine Lösung. Übernehmt die Sicherheit eurer Bürger
       mit den Ressourcen, die ihr zur Verfügung habt. Organisiert lokale
       Ordnungskräfte gegen die Infiltration von Hooligans und gegen den
       erpresserischen und zerstörerischen Opportunismus. Wir trauern mit den
       Hinterbliebenen und drängen die Bundesstaaten zu materieller Entschädigung.
       Um Heilung einzuleiten – dürfen wir davon ausgehen, dass dies gewünscht
       ist? –, muss die Armee sich entschuldigen, nicht nur bei der Nation,
       sondern bei der gesamten Welt. Die Fakten sind unstrittig. Ihr, das
       Militär, habt das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffnet. Es muss
       Wiedergutmachung geben und es muss gesichert sein, dass solche Irrungen
       nicht wieder vorkommen.
       
       Dann kann es einen sinnvollen, lang überfälligen Dialog der Regierenden und
       ihrer Sicherheitskräfte mit der Gesellschaft geben. Nicht diktieren.
       Dialog!
       
       Abeokuta, 21. Oktober 2020, 11 Uhr 
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Dominic Johnson
       
       21 Oct 2020
       
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